Ostern
Aufstand in Trachtenröcken

Sandra-Janine Müller zieht Trachtenpunks an und sagt: „Ich kann als Frau machen, was ich will. Sogar Kleider tragen.“

26.03.2016 | Stand 16.09.2023, 6:51 Uhr

Sandra-Janine Müller schneidert Erinnerungen auf den Leib. Es geht um die eigene Identität statt um Heimatseligkeit. Trachtenpunk heißt seit 2010 ihr Label. So geht heute Revolution. Foto: Georg Drexel

Seit fünf Jahren hatte sie keine Hose mehr an. Nur zu Hause mal. „Man fühlt sich in Hosen so nackig. Ich mag mich in meiner Kleidung verstecken.“ Sandra-Janine Müller ist 35. Suchen muss man sie aber nicht: Sie trägt Tracht. Immer und überall.

Weg mit den üppigen Kleidern, den eng geschnürten Miedern, den langen Haaren. Her mit Bubikopf und Beinkleidern. Das war nach dem 1. Weltkrieg. Ein Aufstand in der Frauen-Modewelt, zugleich ein Ausrufezeichen für die Emanzipation. Während des Krieges mussten die Frauen ihren Mann stehen.

Ratter, ratter, ratter… Stop! Sandra-Janine Müller nimmt den Fuß vom Pedal, hebt den Kopf mit den dunkelbraunen Locken, die von einem roten Haarband zurückgehalten werden. Rockabilly-Frau, 50er Jahre. Der Blümchenstoff, den sie durch ihre Nähmaschine chauffiert, war mal Bettwäsche. Die Bettwäsche der Oma einer Kundin. Oft kombiniert sie mit neuen Stoffen auch Tischdecken und Vorhänge, die sie auf dem Flohmarkt findet. „Wiederverwerten ist gut für die Umwelt“, sagt sie. Gleichzeitig schneidert sie Erinnerungen, neu interpretiert, auf den Leib. In Form von Trachtenröcken und Miedern, dem Spezialgebiet der jungen Designerin. Es geht um die eigene Identität statt um Heimatseligkeit.Trachtenpunkheißt seit 2010 ihr Label. So geht heute Revolution.

Rebellion, Tradition und die Nähe zu Frida Kahlo

Die Schneiderin trägt an diesem Tag Forchheimer Tracht mit Totenkopf-Schürze, eine Posamenten-Knopf-Kette, an den Ohren baumeln Bier-Kronkorken mit Stoffüberzug. Sie sitzt im Atelier ihrer Wohnung, umgeben von Stoffen, fertigen und unfertigen Kleidern. Vor ein paar Jahren ist sie aus Franken zu Freund Markus in die bayerisch-schwäbische Provinz gezogen. An der Tür hängt eine Art Stempeluhr: ein gestaltetes Holz mit Notizbuch. „Weil ich immer den Feierabend vergessen habe.“ Geschreinert vom Freund. Sonst aber bringt sie nichts aus der Ruhe. Da geht es ihr wie dem Schokoladenhasen, der seit letztem Ostern stoisch unter einer Käseglocke sitzt und nicht ans Schmelzen denkt. An der Wand hängen Sprüche, wie „Heute betrink’ ich mich mit Tee, bis ich 2,5 Kamille hab’“ und ein vergilbtes Foto ihrer Oma. In Tracht. Von ihr ist auch die alte Puppe. In Tracht. Auf dem Tisch: Bücher mit Frauen aus anderen Kulturen. In Trachten.

Ratter, ratter, ratter… Stop. Die Ähnlichkeit ist erstaunlich: Da sitzt die Mexikanerin Frida Kahlo an der Nähmaschine, mit dunklen Haaren, gehalten von knalligem Haarschmuck, in folkloristischem Gewand. Ausnahmsweise ohne Pinsel... Auch die große Malerin des vergangenen Jahrhunderts zog sich nach rebellischer Hosenphase in den 20ern nur noch traditionell-mexikanische Kleider an. Sandra-Janine Müller verblüfft die Parallele.

„Oh no!“ Sie schüttelt die Locken. „Lange habe ich das Weibliche abgelehnt. Ich mochte das Wilde der Natur, wollte sein wie mein Bruder und habe mich so verhalten.“ Rosa und Pferde waren kacke. „Erst als Mädchen anfingen, mädchenhaft zu sein und Jungs diese Mädchen cool fanden, hab’ ich kapiert, dass es schön ist, eine Frau zu sein.“ Sie liebte Geschichten von Frauen, die ihren Mann standen oder etwas anders machten. „Seitdem feiere ich das Frau-Sein!“ Sie findet es blöd, wenn Frauen mit dem Herd verknüpft werden. Zumal ihre Küche der Hobbyraum von Freund Markus ist. „Es ist doch toll heute: Ich kann als Frau machen, was ich will. Sogar Kleider tragen. Freiheit!“ Kleider sind für sie „die totale Funktionskleidung“. Im Urlaub tuckerte das Paar im VW-Bus durch den Bayerischen Wald, kraxelte Berge hoch, Natur pur. Sie natürlich im Trachtenrock. Vermutlich sahen sie aus, wie einer Berg-Schmonzette der 50er Jahre entsprungen. Statt in den Outdoor-Rucksack packte Sandra-Janine Müller alles in ihre großen, „diebstahlsicheren“ Schürzentaschen. „Und die Temperatur regulierte ich übers Kniestrümpfe-Krempeln.“

Forchheimer Punk und die Suche nach Heimat

Ihre Einstiegstracht war die Forchheimer. Sie wird heute noch von älteren Forchheimer Frauen getragen. „Die ist toll! Da passt halt einfach nix zam.“ Sandra-Janine Müller schlägt ein Buch auf: Krachend farbige, wilde Muster stoßen an Mieder, Schürze und Rock zusammen. „Punk.“ Der in Forchheim ausstirbt. Sie zeigt auf ihre Kreationen. „Punk’s alive.“

„Wir haben ein romantisches Waldleben gelebt, es war toll am Lagerfeuer Pfeife zu rauchen und Tee zu trinken.“Sandra-Janine Müller, Trachtendesignerin

Die Suche nach Identität und Heimat: „Das war eigentlich ein Grundthema in all meinen Entscheidungen.“ Als Zugezogene aus Hessen fühlte sie sich nie zur Gemeinschaft ihres 300-Einwohnerdorfes in Franken zugehörig, suchte lange nach einer passenden Gruppe, es wurden die Pfadfinder. „Wir haben ein romantisches Waldleben gelebt, es war toll am Lagerfeuer Pfeife zu rauchen und Tee zu trinken.“ Die Schneiderin wurde nicht im Dirndl hochgepäppelt, war nie in Schützen- oder Trachtenvereinen. Stattdessen durchlebte sie Hippiephase, Skaterphase, Ökophase, elegante Phase, Black Metal Phase und Punkphase. Mit 16 erbte sie die verlebte Werktagsschürze der Ur-Oma und trug von da an Röcke. Im Winter mehrere Lagen. „Mir war die Verbindung zu den Vorfahren wichtig. Wahrscheinlich, weil sie nicht im Ort wohnten.“ Am Ende der Schulzeit gestand ihr eine Klassenkameradin, sie habe nie gewusst, wo sie Sandra-Janine einordnen sollte. Doch Menschen hängen an Kleider-Ordnungen, denn Kleider machen Leute. „Das fasziniert mich heute so brutal.“

„Dann wollte ich wissen, wie’s Nähen g’scheit geht.“Sandra-Janine Müller

Sandra-Janine Müller studierte Volkskunde, vertiefte sich in Trachten. Allein, was die Schwarz-Grau-Abstufungen der Trauertracht verraten können, bringt sie noch immer zum Schwärmen: Wer gestorben ist – Mutter, naher oder ferner Angehöriger; wie lange er schon tot ist – anhand von Halb- und Abtrauer-Kleidung; ob man katholisch war oder protestantisch, verheiratet oder ledig, auf dem Weg in die Stadt, in den Stall oder in die Kirche. Und natürlich: Aus welchem Dorf man kam.

Sie schneiderte sich einen Trachtenrock, trug ihn wieder täglich, wurde in der Uni bekannt. „Dann wollte ich wissen, wie’s Nähen g’scheit geht.“ Sie machte Praktika, landete in der Trachtenberatungsstätte im schwäbischen Krumbach. „Wow, das ist es!“ Altes Haus, große Bibliothek, Schneiderwerkstatt. Sie wurde dort als bisher einzige Schneiderin ausgebildet. In der Beratungsstelle arbeitet sie weiterhin nebenher und gibt Workshops im Posamenten-Knöpfe-Wickeln. Als eine der wenigen in Deutschland beherrscht sie die Technik des 18. Jahrhunderts, bei der kunstvolle Knöpfe entstehen. Die Kurse sind voll mit Do-it-Yourselfern.

Schwäbische Tracht aus afrikanischen Stoffen

Freilich eckt Sandra-Janine Müller mit ihrem Stil auch an. Sie irritiert ganz bewusst. Eine andere Trachtenschneiderin schimpfte mal: „Was hat denn Schwaben mit Afrika zu tun?“ Die Frau meinte eine schwäbische Tracht aus afrikanischen Stoffen. Die junge Schneiderin kontert: „Tracht hat sich immer entwickelt. Regt sich die Frau auch über Oktoberfest-Dirndl auf?“ Das Dirndl wurde erst in den 50ern geboren, als Modetracht. Die Begegnung, die nicht die einzige dieser Art blieb, war ein Schlüsselerlebnis, das Sandra-Janine Müller mutiger machte. Afrikanisch, orientalisch, mit Blumen im Haar, mit Schleier, mit Turban. „Meine Heimat ist bunt“, wurde ihr Slogan.

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Eine Auswahl der Artikel aus demMZ-Wochenendmagazin nr. sieben finden Sie hier.