Kriminalität
Dieser Mord wurde zum Mythos

Fast 100 Jahre ist es her, dass auf dem Einödhof Hinterkaifeck sechs Menschen starben. Jetzt gibt es eine Ausstellung.

17.09.2016 | Stand 16.09.2023, 6:47 Uhr

In der Nacht vom 31. März zum 1. April 1922 wurden sämtliche sechs Bewohner des Einödhofes Hinterkaifeck bei Schrobenhausen brutal mit einer Reuthaue erschlagen. Foto: MZ-Archiv

Die Aktenlage ist dürftig: Nur fünf Fotos und mehrere Ordner mit Polizeiprotokollen und Zeugenvernehmungen. Der Rest ist bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg verbrannt oder verschwunden. Auch die Tatwaffe. Der Täter ist längst gestorben und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Und doch lässt das Verbrechen, das sich in der Nacht auf den 1. April 1922 auf dem Einödhof Hinterkaifeck nahe Schrobenhausen abspielte und dem sechs Menschen zum Opfer fielen, die Menschen bis heute nicht los. Auch die Polizei nicht. Eine Ausstellung im Bayerischen Polizeimuseum in Ingolstadt beschäftigt sich ab 23. September mit dem „Mythos Hinterkaifeck“.

„Das Verbrechen hat alle Ingredienzien, die die Neugier wecken“Ansgar Reiß, Direktor des Bayerischen Armeemuseums

„Das Verbrechen hat alle Ingredienzien, die die Neugier wecken“, sagt Ansgar Reiß, Direktor des Bayerischen Armeemuseums, zu dem auch das Bayerische Polizeimuseum gehört. Da ist der polizeibekannte Inzest zwischen dem 65-jährigen Austragsbauern und seiner bildschönen verwitweten Tochter Victoria. Und die Frage, wer der Vater des kleinen Josef ist. Ein Nachbar, mit dem die 35-Jährige ein kurzes Verhältnis hatte oder der eigene Vater? Dann ist da die Magd, die erst wenige Stunden, bevor sie umgebracht wurde, auf dem Hof ihre Stelle angetreten hatte. Das Rätsel, warum das Verbrechen vier Tage unentdeckt blieb, obwohl mehrere Leute auf den Hof kamen und die siebenjährige Cäzilia in der Schule vermisst wurde. Und der Umstand, dass der Mörder möglicherweise noch tagelang die Tiere auf dem Hof versorgte. Versteckte er sich auf dem Anwesen oder wohnte er etwa ganz in der Nähe? Den Mythos begründeten auch jene Gerüchte, dass der Mann von Viktoria gar nicht im Krieg gefallen war, sondern zurückkehrte und sich rächte.

Ein schwieriges Unterfangen

All das bietet Raum für Spekulationen und Schauergeschichten. Die wurden früher in der Gegend rund um Schrobenhausen erzählt. Heute ist das Verbrechen einem viel größeren Publikum bekannt. Auch, weil vor zehn Jahren die Regensburger Schriftstellerin Andrea Maria Schenkel für ihren Roman „Tannöd“ den Fall aufgriff, allerdings in die Zeit der 1950er Jahre verlegte.Das Buch wurde in 20 Sprachen übersetzt.Schon zwei Jahrzehnte davor hatte sich der Journalist Peter Leuschner intensiv mit dem Verbrechen auseinandergesetzt. „Der Mordfall Hinterkaufeck – Spuren eines mysteriösen Verbrechens“ ist bereits in der dritten Auflage erschienen.

Schriftsteller, Journalisten – und auch der Polizei lässt der Fall keine Ruhe. 15 angehende Kriminalbeamte an der Fachhochschule für Verwaltung und Recht in Fürstenfeldbruck bei München wählten vor einigen Jahren den Mordfall Hinterkaifeck für ihre Studienabschlussarbeit aus. Dabei gingen sie der Frage nach, ob es möglich wäre, den Fall mit den heutigen Möglichkeiten aufzuklären. Ein möglicher Täter habe sich beim Aktenstudium herauskristallisiert, stellten sie am Ende fest. Doch gerichtsverwertbare Beweise könnte man nicht liefern.

Sehen Sie zum Thema auch eine Dokumentation:

Davor hatte bereits der Profiler Klaus Wiest aus München das Verbrechen einer operativen Fallanalyse unterzogen. Ein schwieriges Unterfangen. Den Ort des Geschehens kannte er nur von einem Foto. Denn der Hof war bereits 1923 abgerissen worden. Auch ein Bild von den Bewohnern konnte er sich nicht machen. Selbst vom Tatort gibt es nur vier Ablichtungen in den alten Polizeiakten. Zwei zeigen die vier Opfer im Stall, auf einem ist der Kinderwagen zu sehen, in dem der kleine Josef erschlagen wurde – wie es in den alten Polizeiunterlagen heißt auf besonders brutale Art und Weise. Ein weiteres Bild zeigt ein Federbett, unter dem die getötete Magd lag. Blutanhaftungen wurden ebensowenig dokumentiert wie Fingerabdrücke. Dabei wäre zumindest Letzteres damals möglich gewesen. Stattdessen schaltete die Polizei eine Seherin in Nürnberg ein. Zu ihr wurden die bei der Obduktion abgeschnittenen Köpfe der Opfer gebracht. Doch die Séance blieb ergebnislos. Die Köpfe wurden im Krieg zerstört.

„Hinterkaifeck fasziniert mich seitdem ich 16 Jahre alt bin“Konrad Müller, Kriminalkommisar a.D.

Wiest blieben für seine Recherchen also nur die noch verfügbaren Polizeiakten – und Gespräche mit dem früheren Ingolstädter Kriminalkommissar Konrad Müller. Auch Müller, inzwischen 81 Jahre alt, versucht seit Jahrzehnten das geheimnisumwitterte Verbrechen zu lösen. „Hinterkaifeck fasziniert mich seitdem ich 16 Jahre alt bin. Es ist ein Mythos“, sagte er vor einigen Jahren im Gespräch mit unserer Zeitung. Er hat den Hof in Aquarellen verewigt und eine Moritat gedichtet, die er nach seinen Vorträgen singt.

Ein persönliches Motiv?

Auch Müller hat einen Verdacht. Er sieht in der brutalen Tötung des kleinen Josef einen Hinweis für einen Täter aus dem nahen Umfeld. Ebenso wie Profiler Wiest. Vieles, so sagte der in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, deutet darauf hin, „dass das Motiv ein sehr persönliches war“. Dafür spricht auch das Abdecken der Leichen. Einen Raubmord, wie ihn 1922 die Polizei zunächst vermutete, schließen die Ermittler heute aus. „Ein Fremder macht sich nicht diese Mühe.“ Auch Schenkel deutet in ihrem Roman „Tannöd“ an, wer der Täter sein könnte. Ihre fiktiven Figuren enden in einer tragischen Beziehungstat.

Der Fall „Hinterkaifeck“ lässt die Menschen bis heute nicht los. Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie zum Thema!

Diese Bilderstrecke ist leider nicht mehr verfügbar.

Die Ausstellung in Ingolstadt lässt den Fall Hinterkaifeck dagegen offen. „Jeder soll sich sein eigenes Bild machen. Deshalb konzentrieren wir uns nicht auf eine verdächtige Person, sondern bieten sieben Lösungsvorschläge an“, erläutert Reiß. Die Besucher können beim Studium der ausgestellten Dokumente und Bilder ihre eigenen Fallanalysen betreiben. Die Ausstellung zeigt darüber hinaus die Polizeiarbeit, die vor fast 100 Jahren noch unter äußerst schwierigen Bedingungen erfolgte. Nach Hinterkaifeck waren seinerzeit Ermittler aus München ausgereist, denen gerade mal zehn Stunden Zeit blieben, um die Tatortarbeit durchzuführen. Auch die Obduktionen fanden auf dem Hof statt. Dabei gab es Verwechslungen bei der Zuordnung der Verletzungen.

Mythos nährt sich aus dem Schweigen

Der Mythos Hinterkaifeck, so sagt Museumsdirektor Reiß, nährt sich aber nicht nur aus dem ungeklärten Verbrechen, sondern auch aus dem Schweigen, das bei den Menschen im Umkreis herrschte. Mit Fremden wird bis heute ungern über den Fall gesprochen. Dabei sind die Zeitzeugen bereits alle gestorben. Die Tat, so stellten die Polizeischüler in ihrem Abschlussbericht fest, bleibt ein Generationen übergreifendes Erbe.

Für die Betreiber der Internetplattform Hinterkaifeck.net, die an der Ausstellung mitgearbeitet haben, bleibt das Thema voller Rätsel, die es zu lösen gilt. Eines davon ist der Sterbebild mit handschriftlichen Anmerkungen, das in Hagelstadt (Lkr. Regensburg) aufgetaucht ist und nach einem Bericht unserer Zeitung öffentlich bekannt wurde. Wer die Worte „Blutschande“ und „Strafe Gottes“ darauf schrieb, ist bis heute nicht geklärt. Der Mythos Hinterkaifeck geht weiter.

Weitere Artikel aus Bayern lesen Sie hier!