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Laetitia und das gestickte Kloster

Die Äbtissin von Waldsassen, ihr Finanzminister Joseph und warum die Liebe zu Gott nach Pfefferminz schmeckt

24.09.2016 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr

Der Kopf sagte nein, aber das Herz ja: 1994 zog Laetitia Fech im Kloster Waldsassen ein. 1995 wählten ihre Mitschwestern sie in geheimer Wahl zu ihrer Äbtissin. Foto: Sabine Franzl

Nur der Luftzug langer Kutten ist spürbar, schließt man die Augen. Nahezu lautlos füllt sich der Chor der Klosterkirche Waldsassen, jede der acht anwesenden Zisterzienserinnen ein stiller, frühmorgendlicher Hauch aus einer anderen Welt, wo der Tag nicht mit Arbeit oder einem müden Frühstück, sondern mit innerer Einkehr beginnt. Sie nehmen im Chorgestühl Platz. Äbtissin Laetitia Fech (59) hält die Stimmgabel an ihr Ohr, öffnet das Buch mit den Psalmen und beginnt zu singen, oder besser gesagt: zu klingen. Die wiederkehrende Folge von Tönen erfasst den Raum. Die reinen, weichen Frauenstimmen umfangen die Betenden mit einem Dialog, an dem sich nun mehrere Schwestern beteiligen. Der Wechsel von Sitzen, Stehen und Verneigen akzentuiert die Litanei. Worte und Stimmen verschmelzen zum Morgenlob, in das die Schwestern eintauchen, bevor sie ihr Tagwerk in Angriff nehmen.

Sie hat nicht gesucht und wurde gefunden

Als Laetitia noch Agathe hieß und gerade die Freiheiten einer Anfang 20-Jährigen – inklusive Freund – in vollen Zügen genoss, hat sie sich just in so einem Moment unsterblich verliebt. Anders kann sie es nicht erklären: Liebe auf den ersten Blick. „Gebraucht hab’ ich das nicht. Und gesucht erst recht nicht“, sagt sie. Sie besuchte einfach nur im Urlaub eine Freundin im Kloster und begleitete sie zum Chorgebet. Eher hat sie das Gefühl, „dass ich gefunden worden bin“. Ohne diese Liebe zu Gott wäre Laetitia wieder Agathe und vermutlich Ehefrau und Mutter. „Ich hätte das Kloster längst verlassen. Nicht die Strukturen, die Kirche oder der Orden binden mich. Es ist die Liebe. Sie hält bis heute.“

„Das ist dein Kloster, also hilf’ mir, es zu retten“Laetitia Fech ist mit Gott auf Du und Du

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass der liebe Gott ihr so ein Gefühl ins Herz pflanzt. Sie ist mit dem Herrn per Du und manchmal redet sie mit ihm wie Don Camillo mit Jesus: „Das ist dein Kloster, also hilf’ mir, es zu retten.“ 1994 stand sie im baufälligen Kreuzgang der Zisterzienserabtei Waldsassen, gegründet 1133. Von außen stemmten sich gewaltige Balken gegen die sich ausbeulenden Mauern des barocken Baus aus dem 17. Jahrhundert, der auch eine berühmte Bibliothek beherbergt. Innen bröckelte der Putz von den Wänden. Der Konvent bestand aus wenigen betagten Nonnen, die jüngste war damals 53 Jahre alt. Man brauchte dringend eine wie Laetitia: jung, voller Elan, bodenständig, lebenslustig. Die dachte sich im ersten Moment: „Um Gottes willen. Da bleib ich keine Woche.“ Sie hat sich anders entschieden – wie fast immer, wenn der Kopf nein sagt, aber das Herz ja. 1994 zog sie in Waldsassen ein. 1995 wählten ihre Mitschwestern die Neue in geheimer Wahl zu ihrer Äbtissin.

Neben ihrem Platz im Chorgestühl hält ein Lederband den Äbtissinnenstab. Er ist aus dem Holz eines Nussbaums vom Ursprungskloster der Zisterzienser in Citeaux geschnitzt, ein schnörkelloser Hirtenstab, ohne Lack und Prunk, lebendig gemasert, praktisch und bescheiden – aber doch ein Machtsymbol. Als Äbtissin ist sie in der Katholischen Kirche nur dem Heiligen Stuhl unterstellt. Sie sieht das als große Chance: Laetitia Fech ist quasi der Kapitän auf einem Schiff, das unter der Flagge des Papstes fährt. Zweien hat sie schon die Hand geschüttelt: Johannes Paul II. und Benedikt XVI.. Mit Papst Franziskus verbindet sie das Anliegen, die Schöpfung zu bewahren. Zisterzienser unterwerfen sich der Regel der Benediktiner, „ora et labora“ – „bete und arbeite“. Wenn man so will, ist das nichts anderes als der Aufruf, die ideellen und realen Landschaften gleichermaßen zu pflegen. Das tut sie.

Zwischen Gebet und Arbeit

Der Wechsel zwischen beidem bestimmt das Leben im Kloster. Bis zu siebenmal unterbrechen die Chorgebete die Arbeit: spirituelles Durchatmen vor der nächsten Aufgabe. An diesem Tag hat die Äbtissin zwei wichtige Gespräche, viel Post und eine Ortsbegehung für ein neues Bauprojekt vor sich. 22 Wohnungen für Menschen mit Behinderung und ihre alten Eltern sollen in denkmalgeschützten Nebengebäuden entstehen – ein Pilotprojekt für eine neue Art von Inklusion. Betreiben wird es die Caritas mit der Katholischen Jugendfürsorge. Rund zwölf Millionen Euro wird es kosten, Spender sind herzlich willkommen. Als Bauherrin hat die Äbtissin mit der sanften Stimme eine gewisse Härte gelernt: „Manchmal bin ich hinten raus und vorn wieder rein“, erzählt sie. Die bayerische Schwäbin hat anfangs bei den sehr vorsichtigen, skeptischen nordoberpfälzer Männern nicht selten auf Granit gebissen. „Man muss doppelt so gut sein wie ein Mann. Ich habe zwar das höchste Amt inne, das es für eine Frau in der Kirche gibt – hab’s aber trotzdem nicht leicht.“

„Neben dem Stab komme ich mir immer klein vor“

Nach ihrer Weihe zur Äbtissin, die sich demnächst am 3. Oktober zum 21. Mal jährt, tauschte sie den goldenen Krummstab ihrer Vorgängerin aus. Mutter Laetitia brauchte etwas Handfestes. Wenn es ein Ding gibt, das sie am besten charakterisiert, dann ist es dieser schlichte Holzstab. Sie packt ihn waagrecht in der Mitte, und angelt scherzhaft lachend mit dem gebogenen Haken nach einem imaginären Schäflein. „So fang’ ich sie wieder ein.“ Dann stellt sie ihn neben sich, er überragt die zierliche Person um einiges. Sie schaut hoch und sagt: „Neben dem Stab komme ich mir immer klein vor.“ Er ist für sie auch ein Sinnbild für die Größe der Aufgabe.

Und die ist tatsächlich immens: die erste Generalsanierung des Klosters seit dem Barock mit einem Volumen von beinahe 40 Millionen Euro und die Neubelebung des Konvents. Beides ist gelungen. Mittlerweile sind nur mehr drei der neun Schwestern länger in Waldsassen als die Äbtissin selbst. Ihr eng geknüpftes Netzwerk von Freundeskreisen im In- und Ausland verankert das Kloster, einst die prägende Instanz im Stiftland und dann in eine fast aussichtslose Randlage gerutscht, neu in der Mitte Europas. Der Bau strahlt innen wie außen. Ein modernes Hotel und Tagungszentrum, das Gästehaus St. Joseph, beherbergt Gäste von nah und fern. In der Mädchenrealschule pulsiert das Leben. Eine im wahrsten Wortsinn florierende Umweltstation zieht Besucher an. Es gibt Jobs für rund 70 Mitarbeiter.

„Schwester, hast’ di verirrt?“

Eigentlich müsste man Betriebswirt und auch noch Bauingenieur sein, um das alles hinzukriegen. Aber Laetitia Fech ist ein Schöngeist, eigentlich eine Künstlerin. „Ich habe mein Kloster gestickt“, sagt sie deshalb gern. Sie ist Meisterin der Paramentenstickerei und hat mit Erlaubnis ihrer Ordens drei Jahre an der Kunstschule von Professor Hans Seeger in München Zeichnen und Malerei studiert. „Schwester, hast’ di verirrt?“, hat er sie damals begrüßt. Und verabschiedet so: „Schad’, dass’d wieder gehst’, Schwester. Weil wo du warst, waren die Mitstudenten immer anständig.“

„Kind, du hast dich gar nicht verändert. Bist immer noch wie früher“Laetitia Fechs Mutter sagte das kürzlich bei einem Besuch

Agathe ist in München geboren und in Augsburg aufgewachsen. Sie hat einen jüngeren Bruder und eine jüngere Schwester. Der Vater – „ein Humanist, durch und durch, bescheiden und dabei blitzgescheit“. Er unterrichtete Latein, Griechisch, Hebräisch und Russisch. Auf dem Schreibtisch der Äbtissin steht ein Foto des 1985 Verstorbenen: kluge Stirn, freundliche Augen, gerade Nase – die Ähnlichkeit ist unverkennbar, bis auf die gemütliche Pfeife in seiner Hand. Die Mutter – „eine tüchtige Pragmatikerin“. Die strengen Eltern waren nicht begeistert vom Entschluss der Tochter, Nonne zu werden. Nach ihrer Profess 1980 in der Zisterzienserinnen-Abtei Lichtenthal in Baden-Baden aber sagte ihr Vater: „Ich sehe, dass du glücklich bist.“ Da war sie froh. Ihre 82-jährige Mutter hat erst kürzlich gemeint: „Kind, du hast dich gar nicht verändert. Bist immer noch wie früher.“ Auch darüber hat sich Laetitia sehr gefreut.

Früher war sie übrigens so: ein lebhaftes, sonniges Mädel, überall dabei und nicht zu bändigen. Der Name „Laetitia“ – Freude – hätte schon damals gepasst. „Du kannst doch nicht gehorchen, was willst du im Kloster?“ hat der Vater gefragt. Sie zeigt ein Foto, auf dem ein Wirbelwind im weißen Spitzenkleidchen posiert. „Das bin ich.“ Freiheit gab es bei der Großmutter auf dem Bauernhof. „Die Oma hat mir auch die Religiosität ins Herz gelegt.“ Im Arm der Großmutter bekam sie den Gute-Nacht-Segen auf die Stirn gemalt und eine Pfefferminzkugel in den Mund gesteckt. So verband sich für Laetitia Fech die Süßigkeit des Lebens untrennbar mit dem Glauben.

Mit der Hilfe vom heiligen Joseph geht vieles leichter

Seit über 40 Jahren findet sie nun Freiheit in freiwilliger Disziplin und Energie in ihrem Wahlspruch „Die dem Herrn vertrauen, schöpfen neue Kraft“ (Jes 40,31). Schöpfen versteht sie auch wörtlich: Ihr Wappen ziert ein Brunnen. Und sollte das alles nichts helfen, dann gibt es immer noch den heiligen Joseph. Ihm legt Mutter Laetitia alles zu Füßen, was sie so plagt. Ihren „Finanzminister“ nennt sie ihn, denn meist sind es Geldangelegenheiten, in denen sie ihn braucht. Er steht in einer Nische vor ihrem Büro und ist aus viel einfacherem Holz geschnitzt als die wunderbaren Figuren in der Bibliothek. Ein Zimmermann fertigte ihn während der Sanierung aus einem Dachbalken. Hemdsärmlig wie ein Arbeiter und „so schön schaffig mit seiner Kelle“ steht er da, findet die Äbtissin und schiebt ihm vorm Hinausgehen wieder den Bauplan für das Inklusionsprojekt unter den Sockel.

Barfuß in Sandalen mit wehendem schwarzem Skapulier überm wollweißen Gewand eilt sie ein weiteres Mal in die Kirche. Der Tag endet, wie er begonnen hat, mit dem Chorgebet. Danach segnet Mutter Laetitia jede einzelne Schwester im stillen Dunkel der Vorhalle. Eine Pfefferminzkugel gibt es allerdings nicht.

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