Album
Die bloße Künstlerin

Für Melody Gardot ist die Bühne ein Ort der emotionalen Entblößung. Daher ist ihr Live-Album so besonders.

03.02.2018 | Stand 16.09.2023, 6:10 Uhr
Michael Scheiner

„Live in Europe“ von Melody Gardot vereint ihre emotionalsten Auftritte aus den Jahren 2012 bis 2016. Coverfoto: Decca/Universal

Es zeugt nicht von kritischer Distanz und cooler Professionalität, wenn beim Lauschen eines Liedes die Augen feucht werden. Andererseits ist es bemerkenswert, dass nach dem Hören Tausender Tonträger und Hunderter Konzerte eine Stimme noch immer so anrühren und innerlich bewegen kann. Mehr noch, wenn dieses Berührtwerden nicht im Konzertsaal passiert, wo man ganz unmittelbar miterlebt, sondern von einer Aufnahme ausgeht.

Einer Liveaufnahme immerhin, dennoch „nur“ transportiert über eine einfache Melodie aus dem Lautsprecher, gespielt auf einem Cello und einem gezupften Bass und darüber eine zerbrechliche Stimme. Voller Zärtlichkeit und inniger Hingabe singt sie von einer Stelle tief in ihr drin, in ihrem Herzen oder ihrer Seele, wo sie die Erinnerung an ein Gesicht aufbewahrt – „Deep within the corners of my mind“. Ein leichtes Vibrato scheint die Stimme ab und an zittern zu lassen, als drohe ein zu heftiger Klang oder ein lauter Ton die Erinnerung fortzuspülen.

Diese Stimme, eine sehr wandelbare Stimme, gehört der amerikanischen Sängerin Melody Gardot. Nächsten Freitag, knapp eine Woche nach ihrem 33. Geburtstag, wird ihr erstes Livealbum erscheinen. „Live in Europe“ ist ein Doppelalbum, das die Songwriterin und Gitarristin aus Mitschnitten von über 300 Auftritten zusammengestellt hat, die sie zwischen 2012 bis 2016 quer durch Europa absolvierte.

Songs, bei denen sich die Stimmung verdichtet, wo, bildlich gesprochen, das Herz ein wenig höher schlägt

Es ist ein opulentes Album geworden, obwohl es auf Luxusedition und exklusive Aufmachung verzichtet, musikalisch opulent. Auf zwei CDs und fünf von sechs Vinyl-Seiten hat sich Gardot einen langgehegten Herzenswunsch erfüllt, wie sie verrät. Zuerst wollte sie, erzählt sie in einem Interview, „ein Album mit den perfektesten Momenten aus unseren Konzerten der letzten Jahre zusammenstellen“, also eine Art Best-of-Kollektion. Irgendwann habe sie sich aber davon überfordert gefühlt, „Hunderte Konzerte anzuhören und jeden Song darin zu analysieren“. Bei einem Lied aber sei sie unerwartet von der Erinnerung an den Auftritt völlig überwältigt gewesen. Sie spürte das „Feeling“ jenes Abends und ließ sich davon mitreißen. Das gab den Anstoß, nach Momenten und Songs zu suchen, bei denen sich die Stimmung verdichtet, wo, bildlich gesprochen, das Herz ein wenig höher schlägt.

So sind 17 Songs aus ihren vier Studioalben zusammengekommen. Das nachdenklich tänzelnde „Baby I`m A Fool“ aus „My One and Only Thrill“ sogar in zwei Versionen, aufgenommen in Wien und London. Ähnlich einem ihrer Konzerte spiegelt die Sammlung den erstaunlichen Facettenreichtum Gardots wider, ihre stilistische Vielfalt und vokale Ausdruckskraft. Musikalisch ist sie mit ihrer exzellenten Band wohl die am breitesten aufgestellte Künstlerin weltweit, ohne je eine Spur von Beliebigkeit zu produzieren. Vom berückenden Latingroove über intime Momente, knackig-harsche Jazzklänge bis zu französischen Swingwalzern und obercoolem Tangoschwulst nutzt sie souverän Genres, Stile und Farben. Immer dominiert von ihrer Stimme, die mitreißen, provozieren, zupacken oder sich zart wie ein Gespinst auf die Seele legen kann. Diese Frau macht sich nackt – sinnbildlich auf der Bühne und auf dem ungewöhnlichen Cover mit einem Aktfoto.

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