Literatur
Eine Jüdin bricht den Deal mit Gott

Deborah Feldman wächst bei den ultra-orthodoxen Satmarern auf. In Regensburg schildert sie die Geschichte ihrer Flucht.

15.04.2016 | Stand 16.09.2023, 6:46 Uhr
Eine Frau, die heute ganz bei sich ist: Deborah Feldman landete mit „Unorthodox“ den Überraschungsbestseller des Jahres. −Foto: Fotos: altrofoto.de

Worte sind gefährlich. Deborah Feldman hat es selbst erlebt. Als Mädchen in der ultra-orthodoxen Satmar-Gemeinde in New York waren ihr die meisten Bücher verboten. Lektüre in Englisch, der „unreinen Sprache“, hätte sie infizieren können mit Gedanken aus einer Welt außerhalb des abgeschotteten chassidischen Alltags. Deborah Feldman las die Bücher trotzdem und versteckte sie unter dem Bett. Und natürlich kam es, wie ihre Familie fürchtete: Das Mädchen steckte sich an mit Ideen von Freiheit und selbstbestimmtem Leben. Im Alter von 23 Jahren entkam die Jüdin ihrem Kerker. Und jetzt, mit 29, war sie zu Gast in der Buchhandlung Dombrowsky – mit den, wie sie es nennt, „Memoiren“ einer Frau, die sie heute nicht mehr ist.

„Unorthodox“ ploppte am Tag seines Erscheinens an der Spitze der Bestsellerliste der New York Times auf. Das Buch war sofort vergriffen, fand innerhalb einiger Monate eine Million Käufer und wird im Moment in Deutschland entdeckt. „Vor vier Wochen noch hätten wir zu zehnt hier gesessen“, mutmaßt Ulrich Dombrowsky am Donnerstagabend mit Blick auf das sensationelle Echo. „Unorthodox“ ist kein Roman und kein Sachbuch, sondern eine autobiografische Erzählung. Auf 320 Seiten führt uns Deborah Feldman ein in die sonderbare Parallelwelt des New Yorker Viertels Williamsburg.

Der Holocaust, gedeutet als Strafe für ein weltliches Leben

Die 29-Jährige lebt seit 2014 in Berlin und ist mit ihrem Verleger, Übersetzer und guten Freund Christian Ruzicska nach Regensburg gekommen. Sie sieht aus wie eine normale 29-Jährige: langes glattes Haar, schöne Haut, etwas Make-up, modische Kleidung. Sie wirkt allerdings sehr reif, wie eine, die nicht leicht zu erschüttern ist. Und sie ist witzig.

Die Schriftstellerin lässt sich bei der Lesung Zeit und erzählt von Anfang an: also von dem Rabbiner aus Satu Mare in Ungarn, der nach 1945 in die USA emigriert und Holocaust-Überlebende um sich schart. Er bietet den Juden eine Erklärung für das Unfassbare, für den millionenfachen Mord, und deutet die Shoah als Gottes Strafe für ein weltliches, assimiliertes Leben. Der Rabbiner zeigt auch den Weg, um sich vor dem Zorn des Allerhöchsten zu schützen: ein Leben nach strengen Regeln, strenger sogar, als es alle anderen Juden führen. So schließt die Gemeinde einen Deal mit Gott.

Jedes Kind eine Tat der Vergeltung

Die Satmarer verzichten auf alles, was ein Leben schöner, leichter oder freudvoller machen könnte. Sie nutzen jedes Mittel, um sich abzuschotten und ihr Anderssein zu zeigen. Frauen scheren ihr Haar, halten sich bedeckt vom Schlüsselbein bis zum Knie und richten ihren Alltag vollständig auf Familie aus. Die Männer tragen Schläfenlocken und Kniebundhosen mit weißen Strümpfen, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert Mode waren, und studieren die Thora, um ihre Seele mit den rechten Gedanken zu erfrischen. Und gemeinsam machen Männer und Frauen vor allem viele Kinder. Die Nachkommen sollen die Ermordeten ersetzen. Jede Geburt zählt als Triumph, als Rache für den Holocaust.

„Es war wahnsinnig viel Druck.“Deborah Feldman

Deborah Feldman schildert die Kasteiungen in Williamsburg, wo jeder jeden bespitzelt, präzise und gleichzeitig mitfühlend. Sie verurteilt nicht, sondern versteht. „Es gibt zwei Arten, auf die Shoah zu reagieren“, erklärt sie ihrem Publikum in Regensburg. „Die Überzeugung, es gibt keinen Gott. Oder die Überzeugung, Gott ist ein zorniger Meister, den man sich gewogen halten muss.“ Es ist eine der Stärken des Buchs, dass Feldman klar Position bezieht, das aber ohne Bitterkeit, ohne Verachtung und ohne Verrat tut.

Die Großmutter ist der einzige Mensch im Umkreis der jungen Jüdin, der offen und open minded mit ihr spricht. Die „Bubby“ ist ihre Komplizin. Auch sie hat verbotene Bücher versteckt. Je älter das Mädchen wird, um so tiefer wird der Riss zwischen äußerer tadelloser Artigkeit und innerer Rebellion. „Es war wahnsinnig viel Druck“, gesteht Feldman. Nah am Verrücktwerden fühlte sie sich.

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Als sie 17 ist, wird Deborah verheiratet. Vor der Hochzeit sieht sie sich im Traum in einem großen Topf köcheln. Die Tanten rühren in der Brühe, reden verächtlich über sie und schieben das Gekochte in den Ofen – endlich soll das Mädchen wohl geraten. Aber als sie das Gericht oder vielmehr: die Zugerichtete aus dem Backrohr ziehen, zeigt sich der ganze Satansbraten. Statt der koscheren Festtagsspeise sehen sie, was Feldman so beschreibt: „Da bin ich, ein geröstetes Ferkel, meine Haut eine golden glänzende Kruste, ein kleiner roter Apfel in meinem Maul.“ Die Botschaften – das ist eine andere Stärke dieses Buchs –sind in kraftvolle Bilder gepackt, voller Anspielungen und psychologischer Tiefe. Die Episoden der Biografie schillern zwischen blankem Entsetzen und einer abgeklärten selbstironischen Heiterkeit. Das ist alles zugleich: aufregend, anrührend und kühl analysiert.

Sex wird eine heilige Pflicht

Deborah Feldman legt sich in ihrem Buch vollständig offen, bis hin zu den intimen Details einer Braut. Erst von ihrer Hochzeitslehrerin erfährt sie, dass ihr Körper eine Öffnung besitzt, durch die ihr Mann vor ihren „inneren Altar“ gelangen kann. Der krasse Bruch – erst ist Sex ein maximales Tabu, plötzlich ist Orgasmus eine heilige Pflicht – wird ein Treibriemen für Feldmans Flucht. Ein zweiter Antrieb wird die Geburt ihres Sohnes, die sie wieder in Einklang mit sich selbst bringt. Die 23-Jährige macht sich davon und pfeift auf den Deal mit Gott. Und sie schreibt ein Buch, um ihre Geschichte, die immer aus der Perspektive der anderen erzählt wurde, endlich selbst in Besitz zu nehmen. Sie sagt: „Ich bin heute ein sehr sehr glücklicher Mensch.“

Das Buch, 2012 in den USA erschienen, hat zwei Folgen: Die Schriftstellerin bekommt Morddrohungen. Ihre Familie lässt sie wissen, man würde gern auf ihrem Grab tanzen. Die zweite Folge ist: Bei den Satmarern und anderen Ultraorthodoxen wirft eine Reihe von Frauen die Fesseln ab. „Unorthodox“ findet seinen Weg unter die Williamsburger Betten. Gefährliche Worte: Sie tun ihre Wirkung.

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