Kommunikation
Die Augen, das Fenster der Seele

Ganz ohne Worte: Jeden Tag tauschen wir unzählige Blicke mit anderen – und doch hat jeder Augenkontakt etwas Faszinierendes.

11.04.2015 | Stand 16.09.2023, 7:08 Uhr
Christoph Weymann
Nicht umsonst heißt es, ein Blick sagt mehr als tausend Worte. Der Mensch macht sich in Bruchteilen von Sekunden ein Bild vom Gegenüber – und hält daran lange fest. −Foto: Fotolia

Nichts spielt im Leben eine solche Rolle wie das Auge und der Blick“, schrieb der Augenarzt Siegfried Seligmann 1910. Er hat es durchblickt: Wenn zwei Menschen sich unterhalten, kommunizieren auch ihre Augen miteinander – und sprechen oft eine ganz andere Sprache.

Blicke sagen mehr als tausend Worte, heißt es. „Was jemand mit Worten sagt, wird häufig weniger genau betrachtet, als die nonverbale Kommunikation – besonders, wenn man eine Person noch nicht kennt“, sagt die an der Kölner Hochschule Fresenius lehrende Wirtschaftspsychologin Prof. Dr. Wera Aretz. Wie wir andere anschauen, kann eine riesige Gefühlspalette vom Flehen um Aufmerksamkeit bis zur Verachtung ausdrücken. Blicke spielen, zusammen mit Mimik und Gestik, eine wichtige Rolle beim ersten Eindruck, den man von einem anderen gewinnt, bei Bewerbungsgesprächen ebenso wie bei Zufallsbegegnungen. „Das Spannende daran ist, dass innerhalb des Bruchteils einer Sekunde ein sehr differenziertes Urteil gefällt wird über eine Person“, erklärt die Wirtschaftspsychologin. Die Gründe, warum man jemanden als dominant, intelligent oder wie auch immer einstufe, könnten dabei meist gar nicht benannt werden, sagt Aretz, aber „im Sinne der selektiven Wahrnehmung“ neigten wir dazu, an diesem ersten Eindruck festzuhalten.

„...aber das Auge vernimmt und spricht“

Schon mit etwa vier Monaten lernen wir, auf die Augen in einem Gesicht zu achten und von da an lässt uns die Faszination dieses einzigartigen kommunikativen Sinnesorgans nicht mehr los. „Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub, aber das Auge vernimmt und spricht“, schrieb Goethe in einer ersten Fassung seiner Betrachtung „Über das Auge“: „In ihm spiegelt sich von außen die Welt, von innen der Mensch.“ Plinius der Ältere hatte das Auge schon im ersten Jahrhundert in seiner „Naturgeschichte“ als „Fenster der Seele“ bezeichnet. Auch wenn wir längst wissen, dass die unvergleichliche Wirkung unseres Sehorgans genau genommen erst durch kleine Bewegungen der Brauen, der Lider und benachbarter Muskeln zustande kommt – bis heute empfinden wir die Augen als eine Art ungeschützten Intimbereich. Sie sind unser wunder Punkt und unsere zwischenmenschliche Andockstelle. In der Begegnung zweier Augenpaare können wir von der Liebe auf den ersten Blick erwischt werden, oder uns durchschaut fühlen.

Flüchtige Verbindungen zwischen zwei Personen

Wer sich auf einen Blickkontakt einlässt, erweist dem anderen damit schon etwas Respekt und geht eine Art flüchtiger, optischer Fernbeziehung ein. „Der Bettler, dem es gelingt, erst einmal den Blick des Passanten einzufangen, hat schon halb gewonnen...“, beschrieb der Wissenschaftsautor Dieter E. Zimmer diese Wirkung einer „Blickberührung“. Wer jemanden keines Blickes würdigen will oder Angst vor einer direkten Konfrontation hat, vermeidet die Begegnung der Augen.

Rückschlüsse auf die Absichten des Gegenübers lassen sich aus dem unwillkürlich erfolgenden „Pupillensignal“ ziehen, das der Chicagoer Psychologe Eckhard Hess 1960 entdeckte – wenn man es denn deuten kann: Vergrößerte Pupillen weisen auf starke, eher positive Gefühle hin. Einen Heiratsantrag bei kleinen Pupillen des Antragstellers sollte die Verlobte vielleicht lieber nochmal überschlafen. Jadehändler im alten China sollen in der Lage gewesen sein, in den Pupillen eines amerikanischen Einkäufers das Interesse an einem Geschäft abzulesen, um erst dann einen Preis zu nennen. Der Interessent nahm schließlich eine Sonnenbrille zu Hilfe.

Das ist bis heute eine beliebte Möglichkeit, undurchschaubar zu bleiben und jedes Blickduell zu bestehen. Wie lange und wie oft man sich anschauen sollte, wird in jeder Situation und jedem Kulturkreis durch unausgesprochene Konventionen festgelegt. Wer seinem Gegenüber seltener, aber dafür länger in die Augen schaut, kommt bei uns besser an, als jemand, der sich immer wieder hektisch zu- und abwendet, oder überhaupt nicht „in die Augen“ schauen kann. Manchmal kommt es dadurch zu interkulturellen Missverständnissen. Bedeutet ein abgewandten Blick Scham, Höflichkeit oder ein Schuldeingeständnis? Kommt auf die Herkunft an. In China und Japan werden direkte Blicke selbst im persönlichen Gespräch eher vermieden und auch hierzulande registrieren wir es sofort, wenn uns jemand einen Tick zu lange anschaut.

Drohstarren – bei Tieren und bei Menschen

Ein unverwandter Blick wird nicht nur bei Hunden oder Vögeln als „Drohstarren“ eingesetzt. Auch durchsetzungsfreudige Menschen versuchen oft, mit einem länger ausgehaltenen Anschauen andere zu dominieren. Der österreichische Scientology-Aussteiger Wilfried Handl berichtete, dass in der Organisation trainiert wurde, wie man andere unter Druck setzen kann, indem man zwei Stunden lang jemandem in die Augen schauen musste. Auf die Spitze getrieben hat solche unmittelbaren Konfrontationen die New Yorker Performance-Künstlerin Marina Abramovic mit ihrer Aktion „The Artist is present“ im Frühjahr 2010. Fünfundsiebzig Tage lang saß Abramovic während der gesamten Öffnungszeit ohne Unterbrechung fast bewegungslos im Atrium des Museum of Modern Art auf einem Stuhl. Auf einem zweiten Stuhl gegenüber konnten Besucher Platz nehmen und sich von ihr anschauen lassen, was viele zum Weinen brachte.

„Dolche auf jemanden schauen“ heißt das Phänomen der bohrenden Blicke im Englischen. Kein Wunder, dass ein angebliches, respektloses Anstarren zu den klassischen Vorwänden für eine Schlägerei zählt. „Sie haben mich fixiert, mein Herr, geben Sie Satisfaktion!“, sagte man früher vor dem Duell. „Was guckst Du?“, heißt es heute. Besonders unbehaglich fühlt es sich an, von mehreren Augenpaaren angestarrt zu werden. Ende der 1950er Jahre bat ein Wärter im Frankfurter Völkerkundemuseum darum, in einen anderen Saal versetzt zu werden. Es stellte sich heraus, dass er sich mit den vielen Masken und Augenornamenten unwohl fühlte und schon von den vielen Augen träumte.

Auch in Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel“ fühlt sich der Ich-Erzähler Roquentin in einem Museumssaal von einhundertfünfzig durchdringenden Augenpaaren alter Honoratiorenporträts angestarrt und als Person in Frage gestellt. Wie Sartre, der wegen seines schielenden rechten Auges zeitlebens unangenehme Reaktionen ertragen musste, aus der Erfahrung des Angeschautwerdens seine Philosophie des „Anderen“ entwickelte, hat der Romanist Jean Firges in seinem Bändchen „Sartre. Der Blick“ beschrieben. „Ich sehe mich, weil man mich sieht“, schrieb Sartre. Die eigene Freiheit, mit der wir alles betrachten und definieren können, endet demnach am Blick eines Anderen, für den wir selbst zu einem Objekt werden. Nur mit seinem Blick können wir uns selbst wahrnehmen. „Vom Anderen erhalte ich meine Identität“, fasst Firges die Überlegungen Sartres zusammen. In einem Briefwechsel mit Kardinal Martini betont auch Umberto Eco, dass wir „ohne den Blick und die Antwort des anderen … nicht begreifen, wer wir sind“, sieht darin aber etwas Positives: „.. wir würden sterben oder verrückt werden, wenn wir in einer Gemeinschaft leben müssten, in der ausnahmslos alle beschlossen hätten, uns nie anzusehen.“

Die Angst vor dem bösen Blick und den Augen des Gehenkten

Die Macht unergründlicher, unheimlicher Augen hat sich nicht nur in Mythen wie dem versteinernden Blick der Medusa niedergeschlagen. Das Verhüllen der Augen bei Hinrichtungen wurde nicht als humanitäre Geste eingeführt, sondern aus Angst vor dem Blick des Delinquenten. Der Brauch, einem Toten sofort die Augen zu schließen, geht auf ähnliche Befürchtungen zurück. In vielen Ländern gibt es heute noch den Glauben an den „bösen Blick“ – eine Art telepathische Kraft, die einen Schadenszauber bewirkt, den es etwa mit aufgemalten Augen, dem Tragen eines Schleiers, oder auch der obszön zur „Feige“ geballten Faust abzuwehren gilt. Die Vorstellung „prägender“ optischer Eindrücke lag auch dem Phänomen des „Versehens“ im Analogiedenken des Volksaberglaubens zugrunde. Brachte eine Frau ein Kind mit einer Nabelschnurumschlingung oder einem Brandmal zur Welt, musste sie wohl kurz zuvor auf etwas Kreisförmiges gestarrt, oder einen Brand beobachtet haben. Schwangere sollten sich, zum Beispiel mit einem Amulett, vor einem Versehen schützen.

Warum spürt man die Blicke im Rücken?

Einfach unangenehm empfinden manche Menschen das Gefühl, im Rücken einen Blick auf sich zu spüren. Vermutlich ist dafür eine Kombination aus unbewussten Wahrnehmungen im Augenwinkel, Geräuschen, Gerüchen und anderen Eindrücken verantwortlich, die fälschlich als optischer Eindruck verbucht werden. Auch, dass sich blinde Menschen oft beobachtet fühlen, dürfte am Zusammenwirken anderer Sinneseindrücke liegen. Wer eine entspannte Pause vom ständigen Spiel der Blicke sucht, findet sie in Dunkelrestaurants wie der „Blindekuh“ in Basel und Zürich, in denen Sehende von blinden Kellnern und Bedienungen betreut werden. Ohne Ansehen der Person kommen dort ganz unterschiedliche Menschen miteinander ins Gespräch, die sich im Hellen vielleicht nie aufeinander eingelassen hätten.

Besondere Verhaltensregeln gelten in traditionell geprägten Gesellschaften heute noch für Blickkontakte zwischen Männern und Frauen. In ihrem Roman „Ich wollte Hosen“ beschreibt Lara Cordella, wie Mädchen in sizilianischen Dörfern der Nachkriegszeit ungeniert angegafft wurden, selbst aber den Blick auf den Boden richten mussten, wenn sie als anständig gelten wollten. Die Blickhoheit lag in der Hand der Männer. Schaut eine Frau einen Mann direkt an, wird das in vielen Ländern heute noch als sexuelle Einladung verstanden. Umgekehrt leiden Frauen auch in modernen Gesellschaften darunter, im Blick eines Mannes zu einem attraktiven Objekt reduziert zu werden, dessen optischer Wert taxiert wird. „Ich kann nie nicht kein Weib anschaun ganz ohne den Gedanken: ob ich mit der könnte, die mit mir...“, sang Wolf Biermann Mitte der 80-er Jahre, um dieses Geständnis schnell wieder als „Sinnen ohne Sinn“ zu relativieren. Dass Frauen sich nicht immer sicher sein können, ob die Blicke fremder Männer nur die erste Stufe möglicher Zudringlichkeiten sein werden, lässt sie mitunter bedrohlich wirken. „Männerblicke, die mich auf meine sexuelle Tauglichkeit abschätzen, gehörten zu meinem Alltag als Frau, waren eine Art negative Selbstbestätigung“, sagte eine ältere Frau der Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin und Altersexpertin Katharina Gröning. „Erst als die Blicke weniger wurden“, berichtete die Frau dem „Spiegel“ zufolge weiter, „wurden sie mir überhaupt bewusst. Ihr völliges Ausbleiben beunruhigte mich, und ich begann nach den Ursachen zu forschen.“

Eine extreme Ausprägung des verinnerlichten männlichen Blicks hat der Kunstkritiker John Berger zu Beginn der 70-er Jahre beschrieben: „Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die Beziehung von Frauen zu sich selbst. Der Prüfer der Frau in ihr selbst ist männlich, das Geprüfte weiblich. Somit verwandelt sie sich selbst in ein Objekt, … in einen ‚Anblick‘.“ Immerhin: Inzwischen sehen sich auch viele Frauen gerne attraktive Vertreter des anderen Geschlechts an, nur schaffen sie das unauffälliger als die meisten Männer.

Beobachten und beobachtet werden

Nicht jeder Blick fühlt sich unangenehm an. Wie man es genießen kann, sich vor anderen zu produzieren, hat Tucholsky 1928 in seinem Text „Frauen sind eitel, Männer? Nie--!“ beschrieben: Ein Mann im Hotelzimmer bemerkt, dass ihn eine Dame durch den Vorhang des gegenüberliegenden Fensters ungeniert beobachtet. Nach dem ersten Schreck beginnt er, sich genüsslich seiner Körperpflege zu widmen und die Beachtung zu genießen – bis er nach einer halben Stunde merkt, dass er seinen Balztanz vor einer Attrappe vollführt hat: „Ein Holzgestell mit einem Mantel darüber, eine Zimmerpalme und ein dunkler Stuhl.“

Zum Glück gibt es die angenehmen Varianten echter Kommunikation mit den Augen: die kurze, verschwörerische Blickbegegnung zweier Fremder, das liebevolle Zuzwinkern, das bezaubernde Liebäugeln auf Gegenseitigkeit, das einvernehmliche Spiel der Augenpaare, wenn sich wie zufällig zwei Blicke kreuzen, sich wieder finden und immer länger werden – stumme Flirts, bei denen nur scheinbar noch gar nichts passiert, während man einander „schöne Augen“ macht und sich längst „verguckt“ hat. Einer Theorie im alten Griechenland zufolge, brennt es im Auge des Menschen – und wer spielt nicht manchmal gern mit dem Feuer?