Geschichte
Der Bohemismus hatte keine Chance

Böhmen gehörte jahrhundertelang dem Reichsverbund an. Doch immer wieder kam es zu Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen.

06.02.2012 | Stand 16.09.2023, 21:05 Uhr
Gustav Norgall

Regensburg.Johann Wolfgang von Goethe reiste oft von Weimar nach Karlsbad. Um 1800 überquerte er bei der Kutschfahrt von Thüringen nach Böhmen zwar einige Landesgrenzen, das Heilige Römische Reich deutscher Nation musste er dabei aber nicht verlassen. Böhmen war fast ein Jahrtausend lang ein Bestandteil des Reiches – aber doch auch nicht so ganz. Tschechen und Deutsche verbindet vieles, doch es gab in der langen Geschichte leider Gemeinsamkeiten im Guten wie im Schlechten.

Historische Atlanten stellen die Sache auf den ersten Blick ziemlich eindeutig dar. Die Reichsgrenzen schließen im Osten auch Böhmen und Mähren ein – allerdings reicht das Reich im Mittelalter zum Beispiel auch bis weit nach Italien oder in das heutige Belgien oder bis hinunter ins Rhonetal. Das Reich unter dem Kaiser war damals ein übernationales Gebilde, das eigentliche „deutsche“ Königreich hatte engere Grenzen.

Als 1512 sein Territorium in zehn Reichskreise eingeteilt wurde, gehörten Böhmen und seine Nebenländer keiner dieser Kreise an. Ein deutlicher Hinweis auf seine Sonderstellung im Reichsgefüge.

Das seit dem 6. Jahrhundert slawisch besiedelte Böhmen stand bereits früh in engen Beziehungen zu seinem westlichen Nachbarn. Böhmen war zum Beispiel bis zum Jahr 973 Teil des Bistums Regensburg, erst dann entstand ein eigenes Bistum. Die Herrscher aus dem Haus der Premysliden ordneten sich zwar dem deutschen König beziehungsweise Kaiser unter, die eigene böhmische Königswürde – 1085 verliehen – hob den jeweiligen Herrscher aber weit aus dem Kreis der Reichsfürsten heraus. Später gehörte der böhmische Herrscher dem einflussreichen siebenköpfigen Kurfürstenkollegium an, dass den König/Kaiser wählen durfte.

Im 13. Jahrhundert wanderten viele Deutsche vor allem in die Randgebiete von Böhmen und Mähren, das Land wurde zweisprachig. Diese Bewegung erreichte im 14. Jahrhundert ihren Höhepunkt, als der böhmische König als Karl IV. aus dem Haus der Luxemburger zugleich als deutscher König und Kaiser herrschte. Die Kunst blühte, in Prag entstand die erste Universität im ganzen Reich, in der Prager Kanzlei des Herrschers wurden die Grundlagen für die moderne deutsche Sprache gelegt.

Eine „Zeit der Dunkelheit“

Zur selben Zeit schuf der Reformator Jan Hus aber auch die Grundlagen für die tschechische Sprache. Als Hus 1415 auf dem Konzil von Konstanz als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde, erhoben sich seine Anhänger. In den Hussitenkriegen wurde – trotz der vor allem religiösen Wurzeln der Auseinandersetzung – ein Gegensatz zwischen Deutschen und Tschechen deutlich. In der Oberpfalz wurde damals auch gekämpft. Bei Hiltersried wurde 1433 ein Hussitenheer geschlagen, das Festspiel „Vom Hussenkrieg“ erinnert heute noch daran.

In den folgenden zwei Jahrhunderten entstand ein starker Ständestaat, tschechisch war die Amtssprache. Diese von den Tschechen als goldene Zeit geschätzte Epoche endete mit dem 30-jährigen Krieg. Nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) wurden die Führer des Aufstandes gegen den Habsburger Ferdinand II. hingerichtet, vertrieben, enteignet. Katholische, kaisertreue Adlige übernahmen die Güter.

Die Selbstverwaltung Böhmens wurde eingeschränkt, das Land von der Böhmischen Hofkanzlei von Wien aus regiert, bis sogar diese Sondereinrichtung aufgelöst wurde und Böhmen als ein Nebenland des Habsburger Reiches regiert wurde. Deutsch wurde mehr und mehr zur vorherrschenden Amtssprache. Der tschechische Nationalismus sprach von einer Zeit des temno, der Dunkelheit, der Unterdrückung der eigenen Identität. Wer den deutsch-tschechischen Gegensatz im 20. Jahrhundert verstehen will, darf diese Geschichte nicht ausblenden.

Spaltung durch den Nationalismus

Ein lebenskräftiger Bohemismus, ein Landespatriotismus über die Nationalitätsgrenzen hinweg konnte unter diesen Umständen nicht entstehen. Ein gemeinsames böhmisches Nationalbewusstsein von Tschechen und Deutschen blieb ein Traum. Nur in einigen exklusiven Zirkeln, zum Beispiel des Hochadels, wurde er gepflegt, in der Bevölkerung fand der Bohemismus kaum Zuspruch.

Regensburg.Als die nationalistischen Ideen im 19. Jahrhundert um sich griffen, sollte diese Idee Böhmen bald spalten. Wie selbstverständlich wollten die deutschen bürgerlichen Revolutionäre 1848 auch im gesamten Böhmen und in ganz Mähren Wahl zur deutschen Nationalversammlung abhalten. Der Historiker Frantisek Palacky widersprach. Er hatte zu Beginn des Jahrhunderts zusammen mit anderen die tschechische Sprache wiederbelebt. Er lehnte die Teilnahme an der deutschen Verfassungsbewegung ab, stattdessen wurde ein Slawenkongress in Prag veranstaltet. Die nationale Teilung Böhmens zeichnete sich ab.

Vergeblich wurde in den folgenden Jahrzehnten in der Habsburger Monarchie noch versucht, den deutsch-tschechischen Gegensatz zu entschärfen. Nationalitätenverordnungen wurden erarbeitet und verworfen, deutsche und tschechische Parlamentarier verhinderten in den Parlamenten in Prag und Wien alle Kompromisse. Das Streben nach Vorherrschaft oder nach Trennung wurde nun zum gemeinsamen und gefährlichen Ziel beider Volksgruppen. Derart zerrissen ging die Habsburger Monarchie in den Ersten Weltkrieg.

Sein Ergebnis sollte die politischen Verhältnisse in Böhmen und Mähren erneut umkehren.

Im nächsten Serienteil beleuchten wir die deutsch-tschechische Geschichte ab 1918.