Reflexion
Neue Antworten auf die „Sudetenfrage“

In Tschechien ist ein neuer Geist in die Debatte um die Vertreibung der einstigen Mitbürger eingekehrt. Sudetendeutsche sind meist kein Feindbild mehr.

04.03.2012 | Stand 04.03.2012, 20:05 Uhr

Prag/München.Vor Dobronín ragt ein Kreuz schief in den Himmel. Vier Meter hoch ist das von zwei Streben gestützte Denkmal, es steht auf einer Wiese am Rand der scheinbar verschlafenen Gemeinde in Zentraltschechien. Das metallene Kunstwerk erinnert an ein grausames Verbrechen, das im Mai 1945 hier geschah: Vermutlich tschechische Rotgardisten erschlugen fünfzehn Bewohner des Orts, der damals Dobrenz hieß, mit Hacken und Schaufeln. Bauern, ein Polizist, ein Lehrer, deren einzige Schuld wohl darin bestand, Deutsche zu sein.

Das Kreuz von Dobronín ließ ein tschechischer Aktivist errichten. Ein Akt von großer Symbolkraft – und ein Beispiel dafür, dass in Tschechien ein frischer Geist in die Debatte um die Vertreibung der drei Millionen Deutschen eingekehrt ist, die bis 1945 dort lebten. Jahrzehntelang protestierten nur vereinzelt Intellektuelle dagegen, die Vertreibung der Sudetendeutschen und ihre rechtliche Grundlage, die „Beneš-Dekrete“, kritiklos gutzuheißen – unter ihnen der kürzlich verstorbene ehemalige Präsident Václav Havel. Doch seit Ende der 1990er-Jahre dringt die Diskussion immer weiter in die breite Öffentlichkeit. Ondrej Matejka gehört zu den Antreibern dieser Entwicklung. Matejka ist Historiker und Vorsitzender von „Antikomplex“, einer tschechischen Nicht-Regierungsorganisation, die sich seit 1998 der Geschichte der Deutschen im heutigen Tschechien widmet.

Der 32-jährige Matejka wuchs in den 1980er- und 1990er-Jahren im nordböhmischen Liberec auf, dem einstigen Reichenberg. Die vielen heruntergekommenen Fassaden alter Gebäude ließen ihn den schmerzlichen Bruch erkennen, den die Vertreibung der Deutschen für die von ihnen besiedelten Gebiete bedeutet hatte. Er begann, sich zu engagieren und mit „Antikomplex“ eine kritische Stimme zu erheben in der damals hitzigen politischen Diskussion um die „Sudetenfrage“. Es ging um Ängste, vertriebene Deutsche könnten sich ihr Eigentum zurückholen, um Ressentiments von beiden Seiten – aber wenig um Fakten. Tschechische Verbrechen bei der Vertreibung waren weitgehend ein Tabuthema.

Nur 42 Prozent für Vertreibung

Mittlerweile hat sich viel getan. Es sei heutzutage kein Problem mehr, über Gewalt bei den Vertreibungen zu sprechen, sagt Matejka. Ein 2010 im tschechischen Fernsehen ausgestrahlter Dokumentarfilm mit dem Namen „Töten auf Tschechisch“, der unter anderem schockierende Bilder einer Massenhinrichtung deutscher Zivilisten in Prag aus dem Jahr 1945 enthielt, erntete viel Zustimmung. Und laut einer aktuellen Umfrage der tschechischen Akademie der Wissenschaften halten nur noch 42 Prozent der Tschechen die Vertreibung der Deutschen für rechtmäßig. 2003 waren es noch 60 Prozent. Sudetendeutsche sind meist kein Feindbild mehr.

Für Matejka hängt diese Entwicklung, die sich in den vergangenen Jahren in der tschechischen Gesellschaft vollzogen habe, vor allem damit zusammen, dass das Thema nicht mehr so sehr die Politiker beschäftigt. Sondern insbesondere die Menschen in den Orten, in denen bis 1945 vor allem Deutsche wohnten.

In Postoloprty war das Interesse besonders stark. In dem Ort im Nordwesten Tschechiens, dem ehemaligen Postelberg, töteten tschechoslowakische Milizen im Juni 1945 mehr als 700 deutsche Zivilisten. In den 1990er-Jahren stieß die Vertriebenenorganisation „Heimatkreis Saaz“ die Debatte um die Erinnerung an das Massaker an. Doch dann kam der Stein vor Ort ins Rollen. Und nach zwölf Jahren zäher und emotionaler Diskussionen unter den heutigen Bewohnern entschied der Gemeinderat von Postoloprty 2009, eine Gedenkstätte für die Opfer zu errichten. Das Interesse an der entscheidenden Sitzung war riesig: 15 tschechische Journalisten berichteten aus dem beschaulichen Ort mit 5000 Einwohnern.

„Solche lokalen Debatten gibt es immer wieder, immer wieder mit ähnlichem Ergebnis“, berichtet Matejka. Wichtig sei, dass die lokale Politik mittlerweile frei über ihren Umgang mit der Ortsgeschichte entscheiden könne, ohne Druck der Zentralregierung aus Prag. Die Einwohner des böhmischen Orts Dekov, dem einstigen Dekau, wandten sich sogar spontan an „Antikomplex“, um Hilfe bei der Erforschung der Dorfgeschichte vor 1945 zu erhalten.

Prag/München.Dass sich das Verhältnis zur Geschichte der Sudetendeutschen stark gewandelt hat, kann auch Matthias Dörr bestätigen. Dörr ist Geschäftsführer der katholischen Ackermann-Gemeinde, die sich seit 1946 dem deutsch-tschechischen Dialog widmet. In vielen ehemals deutschen Gemeinden in Tschechien knüpften die Menschen wieder an alte Traditionen an. Ein Beispiel: Die Bewohner der Kleinstadt Jihlava, zu deutsch Iglau, belebten den traditionellen Bergmannszug wieder. Dörr verweist aber wie Matejka darauf, dass dieses Phänomens keine absolute Neuigkeit ist. Bereits vor 15 Jahren hätten sich tschechische Universitätsabsolventen in ihren Abschlussarbeiten mit der Vertreibung beschäftigt oder mit Internierungslagern, in denen Sudetendeutsche vor ihrer Vertreibung viel Leid erfuhren.

„Falsche rächten sich an Falschen“

Ein wichtiger Grund für die Vergangenheitsbewältigung ist für Dörr, dass Tschechien heute, anders als direkt nach dem Ende des Kommunismus, nicht mehr nur der kleine Partner Deutschlands sei, sondern ein wirtschaftlich starkes Land ohne große Minderwertigkeitskomplexe. Auf jeden Fall sei diese neue Sicht auf die Geschichte aber so weit gediehen, dass man das Rad nicht mehr zurückdrehen könne.

„Als der Krieg vorbei war, rächten sich die Falschen an den Falschen“, schrieb der tschechische Publizist Petr Prihoda vor ein paar Jahren in einem Kommentar zur Vertreibung der Sudetendeutschen. Für Ondrej Matejka ist dieser Satz wie ein Motor für die Arbeit von „Antikomplex“. „Aber wir müssen ihn mit Fakten ergänzen“, fügt er hinzu. Und immer mehr Tschechen sind an diesen Fakten interessiert.