Bildung

Eine Sprache mit 247 Buchstaben

Seit zehn Jahren gibt der Tamilische Bildungsverein in Regensburg seine Kultur weiter. Das passiert auch am Samstag.

05.10.2017 | Stand 16.09.2023, 6:19 Uhr
Franziska Heinrich

Die Kinder lernen beim Verein ihre Wurzeln kennen. Auch tamilische Tänze, Lieder und Brauchtümer werden gelehrt. Foto: Verein

Der Begriff „tamilisch“ klingt alt und erhaben. So als hätten ihn schon die Menschen der ersten Hochkulturen geprägt. Tatsächlich ist Tamil eine der ältesten Schriftsprachen der Welt. Sie wird im Süden Indiens, in Sri Lanka, Malaysia und Singapur von knapp 70 Millionen Menschen gesprochen. Mit dem Bürgerkrieg in Sri Lanka 1983 kamen vereinzelt Kriegsflüchtlinge nach Deutschland – genau wie der damals 12-jährige Ruthirarasan Tharmendra. Heute ist er dreifacher Familienvater, Kaufmann und Vorsitzender der Tamilischen Bildungsvereinigung Regensburg. Der Verein lehrt Kindern zwischen sechs und 17 Jahren die tamilische Sprache. Dazu treffen sich jeden Samstag rund 15 Schüler für vier bis fünf Stunden zum Unterricht. Neben der Sprache lernen die Kinder auch traditionelle Tänze, Lieder und Brauchtümer ihrer Wurzeln kennen.

Kein Religionsunterricht

Der Bildungsverein befasst sich bewusst nicht mit Religion, sagt Tharmendra: „Dazu müssten wir zwei oder mehr Gruppen bilden, weil wir unterschiedlichen Glaubens sind. Jeder soll seine Religion zuhause umsetzen – bei uns liegt der Fokus auf der Sprache.“ Die tamilischsprachige Bevölkerung ist hinduistisch, christlich und muslimisch, genau wie die Vereinsmitglieder in Regensburg auch. Vorsitzender Tharmendra selbst ist Christ, seine Frau ist Hindu. „Das war bei meinen Eltern auch so“, erzählt der 46-Jährige. Er gehe mit in den Hindutempel, seine Frau begleite ihn an Feiertagen in die Kirche. Ihre drei Kinder sollen sich selbst einmal entscheiden, mit welchem Glauben sie sich identifizieren können. „Ich habe mich auch erst mit 17 Jahren in Deutschland taufen lassen“, sagt Tharmendra.

Laut dem Vorsitzenden ist der wöchentliche Unterricht am Samstag freiwillig: „Es gibt keine Hausaufgaben. Alles wird in der Schule gelernt. Wir wollen die Inhalte eher spielerisch vermitteln, weil die Kinder nicht ihre reguläre Schule vernachlässigen sollen“, sagt der gebürtige Sri-Lanker. Deshalb würden sie ab und zu auch Sportwettkämpfe organisieren. Da bekommen die Kinder Pokale und bleiben hoffentlich motiviert, sagt er.

Trotzdem gäbe es zweimal im Jahr eine Prüfung. Die Noten werden in Sri Lanka als offizielle Schulnote anerkannt. Zudem werde Tamil auch immer öfter als Fremdsprache in deutschen Schulen angerechnet. „Wir legen sehr viel Wert auf Bildung. Die Kinder sollen die tamilische Sprache lernen, multikulturell aufwachsen und sich in Deutschland integrieren“, sagt Tharmendra. Der Vorsitzende erklärt seine Auffassung von Integration mit den Worten: „Ich bin Deutscher, Europäer und Sri Lanker – je nachdem, mit wem ich verkehre. Wir wollen unsere Kultur nicht nach außen hin offen ausleben, wir wollen uns anpassen. In unseren Kreisen können wir dann so sein, wie wir wollen.“

Unter der Woche sei Tharmendra Europäer, am Wochenende oder bei Veranstaltungen sei er Tamile: „Da ziehe ich mich dann auch dem Anlass entsprechend mit traditioneller Kleidung an. In Sri Lanka gibt es für Männer den Veti, ein langes Seiden- oder Baumwolltuch in Weiß, das auf der Hüfte geknotet wird. Die Frau trägt einen Sari, wie man ihn typischerweise auch aus Indien kennt. Es wird mit einer speziellen Technik um den Körper gebunden und erinnert an ein Kleid.“

Tamil zu lernen ist nicht einfach

Tamil ist keine einfache Sprache: 247 Buchstaben gilt es auswendig zu lernen. Erst dann könne man richtig Lesen und Schreiben, sagt Tharmendra. Gelesen wird Tamil von links nach rechts, so wie die lateinischen Schriften. Auch die Satzzeichen sind wie unsere. Für ungeübte Augen nicht zu erkennen sind jedoch die Buchstaben: geschwungen, rundlich und fast schon verschnörkelt wirken sie auf die Menschen, die das lateinische Alphabet gelernt haben.

Zum 10. Jubiläum stellte der Bildungsverein eine Zeitschrift zusammen. Darin sind bunte Zeichnungen und Texte von den Kindern, Fotos von Tänzen, Aufführungen und verschiedenen Feiern festgehalten. Der Verein feierte mit den Kindern Weihnachten samt den Heiligen Drei Königen und zwei als Engeln verkleideten Kindern, das sri-lankische Erntedankfest mit Milchreis als Gabe für den Sonnengott und Paraden, an denen die Kinder marschiert sind wie in der Heimat auch üblich. Allerdings mit deutscher Flagge.

Ruhig, aber nicht friedlich

Die Bildungsvereinigung würde aber gerne noch mehr tun. Die Kultur lernen Kinder am besten vor Ort kennen, also in Sri Lanka. Einem Schüleraustausch stehen jedoch zwei Dinge im Weg, sagt der Vorsitzende: „Zum einen sind die Sommerferien dort im Winter und zum anderen dürfen vor allem junge Sri Lanker nicht ohne Visum nach Deutschland einreisen. Wenn man junge Leute einlädt, dann geht die Regierung davon aus, dass sie in manchen Fällen als Asylsuchende hier bleiben“, sagt Ruthirarasan Tharmendra.

Seit 2009 gilt der Bürgerkrieg in Sri Lanka offiziell als beendet. Der 46-Jährige nennt die Situation insgesamt ruhig, aber nicht friedlich. Seine Frau konnte dieses Jahr das erste Mal seit der Flucht 1996 ihre Mutter besuchen.

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