Kriminalität
„Wegsperren macht Täter gefährlicher“

Gefängnisdirektor Thomas Galli, der in Straubing und Amberg arbeitete, plädiert für einen neuen Strafvollzug ohne Gefängnisse

12.03.2016 | Stand 16.09.2023, 6:54 Uhr

Ein Wachturm der Justizvollzugsanstalt (JVA) Straubing. Mehrere Jahre war Thomas Galli in dem Hochsicherheitsgefängnis in der Gefängnisleitung tätig. Foto: dpa

Seit 15 Jahren findet Thomas Gallis Arbeitsalltag im Gefängnis statt. Nach Stationen in der JVA Amberg und Straubing ist er seit 2013 Leiter der JVA Zeithain und derzeit in Elternzeit. Über seine Arbeit hat er ein Buch geschrieben. In neun spannenden Geschichten erzählt „Die Schwere der Schuld“ von ganz unterschiedlichen Menschen hinter Gittern. Da ist zum Beispiel der Fall eines jungen Russlanddeutschen, der die gefängnisinterne russische Mafia gegen sich aufbringt. Oder der Fall eines Schwerverbrechers, der sich in Haft absolut vorbildlich verhält und eher Kontakt zum Personal als zu Mitgefangenen sucht. Ein Häftling macht dem Gefängnispersonal das Leben schwer, indem er es mit Beschwerden überhäuft. Galli beleuchtet in den Fällen Zustände in Gefängnissen und wirft einen kritischen Blick auf das Strafvollzugssystem. Im Interview mit der MZ spricht er über das Gefängnis als „Schule der Kriminalität“, den NSU-Prozess, den Fall Uli Hoeneß und zwei sicherungsverwahrte Täter aus Regensburg.

In Ihrem Buch „Die Schwere der Schuld“ stellen Sie neun ganz unterschiedliche Menschen hinter Gittern vor. Was möchten Sie den Lesern mit den Schilderungen vermitteln?

In erster Linie soll das Buch interessant und spannend sein. Die Welt hinter Gittern ist ja eine sehr besondere Welt, gerade wenn Sie an Hochsicherheitsanstalten wie die JVA Straubing denken. Und natürlich habe ich in 15 Jahren Strafvollzug viel mitbekommen, wie z. B. einen Mord in der Russenmafia. Auf einer tieferen Ebene soll das Buch aber auch zum Nachdenken anregen. Ist es wirklich sinnvoll, Menschen zur Strafe einzusperren? Was erreichen wir damit? Soll das noch zeitgemäß sein? Wollen wir ernsthaft behaupten, jemanden in die Gesellschaft integrieren zu können, indem wir ihn Jahre oder Jahrzehnte wegsperren? Ist es wirklich angemessen, von Schuld zu sprechen, wenn jemand, der von frühester Kindheit an mit Problemen zu kämpfen hatte, von denen die Mehrheit unserer Gesellschaft verschont bleibt, irgendwann selbst auf die „schiefe Bahn“ gerät und straffällig wird? Zum Thema Schuld habe ich übrigens, weil diese Frage oft gestellt wird, einen grundsätzlich anderen Ansatz als Ferdinand von Schirach in seinen Büchern. Ich denke nicht, dass sie unvermeidlich ist, sondern dass es in unserer Verantwortung liegt, sie zu reduzieren.

Welche Schicksale hinter Gittern haben Sie besonders berührt?

Ein besonders schlimmer Vorfall war die Geiselnahme und Vergewaltigung einer Therapeutin, übrigens durch einen Gefangenen, der über viele Jahre mit großem Aufwand (und zunächst scheinbar erfolgreich) therapiert worden ist. Von einer Anstalt wie der JVA Straubing abgesehen sind aber die weitaus meisten Gefangenen keine Mörder oder Vergewaltiger, sondern verbüßen ein paar Jahre wegen Drogendelikten und ähnlichem. Wenn man mitbekommt, wie junge inhaftierte Väter, die selbst aus schwierigsten sozialen Verhältnissen kommen, im Gefängnis von ihren Kindern besucht werden, zum Teil nur hinter der Trennscheibe, d. h. ohne eine Möglichkeit sich zu berühren oder zu umarmen, dann ist das sehr erschütternd. Zumal man weiß, dass diese Kinder mit weit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit irgendwann selbst hinter Gittern landen werden.

Wo sind Sie im Umgang mit Häftlingen an Ihre Grenzen gestoßen?

Es gibt sehr wenige höchst „bösartige“ Menschen, die nie in der Lage sein werden, die Interessen anderer zu respektieren, und die auch noch in Haft z. B. mit Kot auf uns Bedienstete schmeißen. Einer von diesen Menschen wird auch im Buch geschildert.

Sie sind der Meinung, dass das jetzige Strafrecht dringend reformiert werden müsste und sehen in Gefängnisstrafen ein falsches und kostspieliges Symbol. Worin liegt für Sie das Grundproblem?

Das Grundproblem liegt darin, dass wir selbst mit vernünftigen Strafen überhaupt nur einen kleinen Teil der Kriminalität verhindern könnten. Wenn die Strafe dann auch noch in einem Freiheitsentzug besteht, der viele noch weiter an den Rand der Gesellschaft treibt und damit eher gefährlicher als weniger gefährlicher macht (und so gut wie jeder Inhaftierte wird irgendwann entlassen), dann richten wir damit zusätzlichen Schaden nicht nur an den Gefangenen, sondern bei uns allen an. Viele sehen das aber nicht, oder wollen es nicht sehen, indem sie sich in die Illusion flüchten, das Gefängnis sei ein Garant von Sicherheit, Recht und Ordnung. Auch ist es natürlich weniger gedankenaufwändig, harte Strafen zu fordern, anstatt langfristig soziale Strukturen zu hinterfragen und zu verändern.

Wie sieht für Sie ein zeitgemäßer Strafvollzug aus?

Das Ziel muss sein, das Gefängnis als überholtes Prinzip durch sinnvollere staatliche Interventionen zu ersetzen. Das kann nicht von heute auf morgen passieren. In jedem Falle sollten Freiheitsstrafen deutlich reduziert und, soweit überhaupt notwendig, etwa durch Geldbußen, Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit oder elektronisch überwachten Hausarrest ersetzt werden. Und vor allem müssen für die Arbeit mit den Menschen, die man immer noch einsperren muss oder meint einsperren zu müssen, deutlich mehr Ressourcen verwendet werden. Es muss genügend Personal da sein, um die Haftzeit zumindest einigermaßen sinnvoll gestalten zu können. Für die wenigen politisch brisanten Hochrisikoprobanden, für die eine sehr lange Haftstrafe unumgänglich erscheint, sehe ich eine menschenwürdige Gestaltung dringend erforderlich. Sie sollten nicht wie derzeit in kleinen Hafträumen untergebracht werden und auch nicht zu Therapien gezwungen werden. Ich würde diese Menschen also weitgehend selbstbestimmt und selbstverantwortlich in nach außen abgeriegelten Wohngegenden, ähnlich einer Gated Community, leben lassen. Das wäre für den Steuerzahler auch viel günstiger als diese Anstalten mit dem riesigen bürokratischen Apparat.

Sie plädieren dafür, mehr Geld und Ressourcen für Kinder mit psychischen und sozialen Problemen aufzuwenden, um mit frühzeitigen Therapien einer späteren Straffälligkeit vorzubeugen. Wie könnte das konkret umgesetzt werden?

Es gibt keine Patentlösung im Umgang mit Kriminalität, und eine Gesellschaft ohne jede Kriminalität ist ohnehin nicht denkbar. Man kann als Staat und Gesellschaft also nur versuchen den Schaden, den Einzelne anderen zufügen, möglichst zu begrenzen. Nicht alle, aber sehr viele Straftäter haben eben von frühester Kindheit an Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung erlebt. Ich denke, es wäre auch im Sinne einer wirksamen Kriminalitätsprävention z. B. sehr sinnvoll, die Zahl der Stellen für Sozialarbeiter und Psychologen an Kindergärten und Schulen zu erhöhen.

In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Schwierigkeiten bei der Begutachtung von Inhaftierten. Was bedeuten die getroffenen Einschätzungen von Psychiatern und Psychologen für den Strafvollzug und für die Inhaftierten?

Viele Entscheidungen im Strafvollzug von der geeigneten Therapie über die Genehmigung zu Ausgängen bis hin zur vorzeitigen Entlassung oder einer Sicherungsverwahrung nach der Haft werden ganz wesentlich auf die gutachterliche Einschätzung von Psychologen und Psychiatern gestützt. Es ist ja auch sehr nachvollziehbar, dass man versucht, in das Gehirn und die Seele eines Menschen hineinzusehen um die Gefahr, die von ihm ausgeht, einschätzen zu können. Nur funktioniert es leider oder auch zum Glück nicht. Ein Rechtsstaat sollte das einsehen und seine einschneidendsten Maßnahmen nicht auf kaum objektivierbare Einschätzungen von Gutachtern stützen.

Sie halten Therapien bei besonders gefährlichen Straftätern für nicht wirksam. Sie sprechen von einer Scheinsicherheit, die hier vermittelt werde. Wie soll man mit nicht therapiefähigen Personen verfahren?

Alle Arten von Zwangstherapien haben, das zeigen die wissenschaftlichen Studien, wenig bis keine Aussicht auf Erfolg. Zum Teil wirken sie auch kontraproduktiv, d. h., therapierte Gefangene sind langfristig gefährlicher als nicht therapierte. Was soll das? Die Kosten für solche Therapien gehen, wohlgemerkt für einen einzigen Gefangenen, in die Millionen. Ich plädiere dafür, jeden Menschen, auch den, der Schlimmstes getan hat, menschenwürdig zu behandeln. Und wenn er eine Therapie braucht, soll er die auch, unabhängig von den Kosten, bekommen können. Wir lügen uns aber in die Tasche, wenn wir meinen, jemanden z. B. zehn Jahre gegen seinen Willen wegsperren zu können und ihn in dieser Zeit auch noch gegen seinen Willen zum Positiven zu verändern. Es gibt nur sehr wenige äußerst gefährliche Menschen. Diesen ganz wenigen sollte man, und da bin ich anderer Meinung als das Bundesverfassungsgericht, auch bis zum Lebensende die völlige Freiheit entziehen können, ohne sie 40 Jahre lang zu therapieren, um sie dann in die gesicherte Altersarmut und ein Alten- oder Pflegeheim entlassen zu können. In anderen Fällen werden Inhaftierte frühzeitig mit der Begründung entlassen, sie seien erfolgreich therapiert worden. Dann kommt es zu dramatischen Rückfällen, wie es auch im Buch thematisiert wird.

In Straubing gibt es jetzt ein eigenes Gebäude für Sicherungsverwahrte. Hat sich die Situation für die Langzeitinhaftierten damit spürbar verbessert?

Die Situation hat sich für die Inhaftierten selbst etwas verbessert, ja, obwohl sie immer noch im Gefängnis sind, auch wenn es oft anders dargestellt wird. Die Verwahrten haben größere Unterkunftsräume und größere Fernseher und werden öfter außerhalb der Mauern ausgeführt, z. B. in den Zoo. Und sie werden von vorne bis hinten mit einem Aufwand therapiert, von dem psychisch Kranke oft nur träumen können. Auch werden sie regelmäßig begutachtet, ob sie nicht doch entlassen werden könnten. So stellt sich das Bundesverfassungsgericht eine freiheitsorientierte, menschenwürdige Verwahrung vor. Wie gesagt, wenn die Gesellschaft als Ganzes von diesem Aufwand profitieren würde, wäre er gerechtfertigt. Aber in der Realität ist das aus meiner persönlichen Sicht ein kostspieliges Theater, um sowohl die zu beruhigen, die sich um die öffentliche Sicherheit sorgen, als auch die, die sich um die Menschenrechte der Inhaftierten sorgen. Das ist nicht menschenwürdig. Nicht gegenüber den Verwahrten, die oft sehr genau durchschaut haben, was da läuft, nicht gegenüber der Allgemeinheit, und nicht gegenüber Opfern oder künftigen Opfern.

In der Sicherungsverwahrung in Straubing sindder Joggerinmörder aus dem Kelheimer Forstsowie einRegensburger, der einen Ministranten und einen achtjährigen Buben in München tötete, untergebracht. Beide Straftäter sind in sehr jungen Jahren inhaftiert worden und inzwischen über einen sehr langen Zeitraum. Besteht Hoffnung, dass sie jemals resozialisiert werden können?

Durch oder im Rahmen einer so langen Haftzeit kann aus meiner Sicht so gut wie keiner resozialisiert werden. Das Leben in Strafhaft oder Sicherungsverwahrung ist 24 Stunden täglich durchorganisiert, es gibt fast keine Möglichkeit zu partnerschaftlichen Beziehungen usw., das alles hat mit dem realen Leben außerhalb der Gefängnismauern nichts zu tun. Wie soll jemand z. B. lernen, seine sexuellen Triebe sozialadäquat auszuleben, wenn er für Jahre oder Jahrzehnte in Haft überhaupt keine sexuelle Beziehung zum anderen Geschlecht führen kann? Ich kann nicht zu Einzelfällen Stellung nehmen, sondern nur auf den systematischen Unsinn hinweisen, der darin besteht zu glauben, dass Menschen, die so unsozialisiert sind, dass sie z. B. aus sexuellen Motiven andere umbringen, durch und in der Haft sozialisiert werden könnten.

Sie führen in Ihrem Buch den Mittagsmörder an, der nach etwa 50 Jahren aus der JVA Straubing entlassen wurde, und stellen die Frage, wie man nach so langer Zeit im Knast auf ein strafloses Leben in Freiheit vorbereitet werden soll.Auch ein siebenfacher Frauenmörder aus Regensburgsitzt bereits seit 20 Jahren in Straubing ein. Er ist 77 Jahre alt. Wie bewerten Sie diese noch mindestens sieben Jahre andauernde Unterbringung und wie wird er sich als dann 84-jähriger Mann in Freiheit zurechtfinden?

Kaum jemand wird seriös behaupten wollen, dass nach so langer Haft eine (Re-)sozialisierung nur im Ansatz denkbar ist. Solche extremen Fälle zeigen aber auch einen weiteren Unsinn im System. Eine Strafe wird ja ausgesprochen, um Unrecht zu vergelten. Das hieße, dass jemand, der seine Haft wegen seiner Straftaten verbüßt hat, wieder behandelt werden müsste wie jemand, der dieses Straftaten gar nicht begangen hat. Das Gegenteil ist der Fall. Wie würden Sie jemandem gegenübertreten, der gerade nach 50 Jahren Haft aus der JVA Straubing entlassen wurde? Ohne Vorbehalte, auf Augenhöhe? Die Opfer (bzw. deren Hinterbliebene) übrigens werden nicht gefragt. Weder, ob jemand eingesperrt bleiben soll, noch ob eine Entlassung gerechtfertigt ist.

Vor wenigen Tagenkam Uli Hoeneß aus der Haft frei. In der Öffentlichkeit wurde mehrfach kritisiert, dass er anders als andere Straftäter behandelt wurde und sehr viele Freiheiten genoss, die Inhaftierten in der Regel sonst nicht zuteil werden. Wie bewerten Sie das als Leiter einer Justizvollzugsanstalt?

Ich kenne den Fall Hoeneß nur aus den Medien. Ganz allgemein ist es aber eine Erfahrung aus der Praxis, wenn man sich die vielen Kleinkriminellen gerade im Bereich der Vermögensdelikte ansieht, dass sich das Recht oft den einfachsten Weg sucht. D. h., Gerechtigkeit wird an denen besonders konsequent geübt, die sich am schlechtesten wehren können. Recht ist natürlich immer Ausfluss von Macht, und umgekehrt.

DerNSU-Prozess vollendet in Kürze das dritte Jahr. Wie bewerten Sie als Kriminologe den bisherigen Ablauf. Wie schwer wird es für das Gericht werden, eine „gerechte“ Strafe zu finden?

Ich kann und will nicht die Richter oder sonstige Prozessbeteiligte beurteilen oder gar kritisieren. Der Prozess zeigt aber aus meiner Sicht exemplarisch, wie unvernünftig unser Umgang und unsere Verwendung von Ressourcen im Umgang mit kriminellem Verhalten Einzelner ist. Dem Staat ist es über viele Jahre nicht gelungen, diese brutale Gewaltserie zu stoppen. Die Täter sind nun tot und es wird, mit immensem Aufwand, über jemanden zu Gericht gesessen, der die Morde wohl zumindest nicht unmittelbar ausgeübt hat. Das kostet den Steuerzahler Millionen, und was ist damit für die Zukunft gewonnen? Für die Opfer und ihre Angehörigen wiederum muss es sehr belastend sein, mitzuerleben, über welche Fragen nunmehr schon seit Jahren vor Gericht gestritten wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese unmittelbar Betroffenen das strafrechtliche Verfahren als gerecht erleben.

Buchtipp: Thomas Galli, „Die Schwere der Schuld. Ein Gefängnisdirektor erzählt“, Verlag Das neue Berlin, 192 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 978-3-360-01307-1