Ausradiert
Schellneck wurde vom Kanal „verschluckt“

Beim Bau des Main-Donau-Kanals verschwand das Örtchen bei Altessing von der Landkarte. Geblieben sind Fotos und Erinnerungen.

11.08.2017 | Stand 16.09.2023, 6:19 Uhr

Schellneck war auf zahlreichen Postkarten abgebildet – heute gibt es das Örtchen nicht mehr, es wurde beim Bau des Main-Donau-Kanals komplett abgerissen. Foto: Sammlung Dieter Sauer

Dieter Sauer geht gesetzten Schrittes über die mit dicken Bohlen gezimmerte hölzerne Brücke, die bei Altessing den alten Ludwigs-Kanal überspannt. Die gepolsterten Sohlen seiner modernen Sandalen schlucken jedes Geräusch seiner Schritte, stören die beinahe andächtige Stille nicht. Am Ende der Brücke hält er ein, lässt seinen Blick über die dichte Vegetation schweifen – hin und her. Zwei, drei Mal. Wortlos schlendert er, scheinbar gedankenverloren, an einem großen Mühlstein vorbei, klopft auf die Rinde eines Ahornbaums. „Der ist immer noch hier“, sagt er zu seiner Schwester Christa Faber. Dann fällt sein Blick über die Büsche hinweg auf das Panoramaschiff Altmühlperle: „Hier sind wir geboren und aufgewachsen – jetzt fahren Touristen quasi durch unseren Garten.“ Dieter Sauer spricht von Schellneck, einem Ortsteil von Essing, der Ende der 1970er Jahre dem Main-Donau-Kanal weichen musste. Heute erinnert nur noch ein Reiher, das Essinger Wappentier, auf einer metallenen Stehle an das einst stolze Gut.

Knapp 40 Jahre ist es nun her, dass der kleine Ort im Zuge des Kanalbaus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Wenn andere in diesem Jahr das 25-jährige Jubiläum der Eröffnung des Kanals mit Festakten begehen, ist Dieter Sauer nicht nach Feiern zu Mute: „Es ist nicht so, dass das Kanaljubiläum bei mir alte Wunden aufreißt – dafür ist die Geschichte zu lange her“, sagt der 63-Jährige und seiner Schwester geht es ähnlich: „Schellneck war nicht nur meine Heimat, es war ein Paradies auf Erden. Es ist sehr schade, was damit passiert ist.“

Betrachtet man historische Fotografien, gibt man den beiden Recht: Schellneck lag, eingeschlossen vom 1846 gebauten Ludwigs-Kanal und der Altmühl, auf einer kleinen Insel. Nur die heute noch existierende hölzerne Brücke verband die Siedlung mit Altessing. Ein Postkartenidyll – im wahrsten Sinne des Wortes: Davon zeugen zahlreiche Postkarten aus mehreren Jahrzehnten. „Man war unter sich. Es war ruhig. Es war gemütlich. Es war romantisch. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten, waren unsere eigenen Herren. Es war Natur pur und einfach zu schön, um wahr zu sein“, gerät Christa Faber ins Schwärmen. „Die Zeit war in Schellneck quasi stehen geblieben.“

Erste Besiedlung im 5. Jahrhundert

Das war sie natürlich nur rein sprichwörtlich, denn Schellneck hat eine weit zurückreichende Geschichte. Archäologische Funde weisen bereits auf eine frühe, allerdings zeitlich begrenzte Besiedlung im 5. Jahrhundert hin, deren Bewohner auf Eisenbearbeitung spezialisiert waren. Das wurde wohl zur Tradition: Nachgewiesen ist ein Hammerwerk im 11. Jahrhundert. Daher stammt wohl auch der Name Schellneck. Essings Chronist Hans Haller dazu: „In Schellneck könnte das althochdeutsche ,scellan‘ stecken, was ,schellen, tönen, Töne machen‘ bedeutet, bezogen auf das Echo, das hier an den Steilwänden der Hammerleite den frühen Siedler beeindruckte.“

Die Besitzer des Hammerwerks waren die sogenannten Schellnecker, Dienst- und Lehensmänner des Grafen von Abensberg. Im 14. Jahrhundert ist das Adelsgeschlecht der Hilpranten urkundlich als Herr über Schellneck ausgewiesen, 1524 vermachten die bayerischen Herzöge Wilhelm und Ludwig den „herabgekommenen Hammer Schellneck unserem lieben Getreuen Wilhelmen Wielandt und seinen Hausfrauen“. Es wurde damals auch das Recht verbrieft, „Erz zu graben und Holz zu schlagen“. Nächster Besitzer war die Familie Oelpär und deren Nachkommen von 1567 ab. Während des Dreißigjährigen Krieges fiel Schellneck den marodierenden schwedischen Truppen zum Opfer, wurde größtenteils abgebrannt.

Fabrikant zieht in Schellneck ein

Über weitere Besitzer gelangte 1815 Regierungsrat Anton von Schmauß in den Besitz des Gutes, verbesserte das Hammerwerk, sanierte und baute zahlreiche Gebäude – als der Ludwigskanal gebaut wurde, verkaufte er allerdings verärgert das Gut. 1870 wurde in Schellneck der Hochofen- und Hammerbetrieb eingestellt, stattdessen etablierte 1882 der Fabrikant Richard Weck einen „Schleifbetrieb mit Pappe-Produktion“ mit 80 Mann Belegschaft. Der Betrieb hielt sich, trotz mehrfach wechselnder Besitzverhältnisse, bis Ende der 1970er Jahre. Der letzte Besitzer, die Firma Hubert von Carnap aus Köln und deren Inhaber Theo Zimmermann passte die Produktion modernen Verhältnissen an – „das Ende läutete erst der Kanalbau ein“, sagt Dieter Sauer.

Die Pappenfabrik war – neben dem Gutshof, der mittlerweile der Familie Pfreundschuh gehörte – die Lebensquelle des Örtchens. „Viele Schellnecker haben dort gearbeitet und entweder in Firmenwohnungen oder Häusern des Gutshofes gewohnt“, sagt Sauer. Er selbst hat in der Firma seinen Beruf erlernt und gearbeitet, sein Vater war Betriebsleiter. „Besonders war auch das dazugehörige Wasserkraftwerk, das Schellneck lange mit Strom versorgte. Wir wurden natürlich irgendwann an das allgemeine Stromnetz angeschlossen, aber ich erinnere mich an Gewitter, in denen in Altessing plötzlich der Strom weg und alles dunkel war und bei uns war immer noch Festbeleuchtung“, sagt er und blättert an seinem Laptop weiter in den zahlreichen Fotos, die er über Jahre gesammelt hat.

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Dabei geraten er und seine Schwester ins Sinnieren: „Da vorne war der Eckelt drin – das Lebensmittelgeschäft – der hatte alles. Da kamen sogar die Leute aus Essing, um einzukaufen. Da hinten beim Gutshof gab es noch Eier und Milch zu kaufen – wir waren quasi autark“, sagt Christa Faber. „Da hat die Familie Schaller gewohnt, direkt neben dem Eckelt, da die Familie Wittmann und da die Familie Weck“, erzählt die 67-Jährige. „Wir haben hier auch mal gewohnt, Christa“, fällt ihr ihr Bruder ins Wort“, nur um die Aufzählung gleich weiterzuführen: „Da war die Familie Schirmel zu Hause, da die Familie Kost, da die Langheinrichs, da die Guschkers, da die Pfreundschuhs, da die Bothes...“

Etwa 90 Menschen wohnten in der Kindheit von Dieter Sauer noch in Schellneck – nach dem Zweiten Weltkrieg waren es um Zuge des Flüchtlingsstroms bis zu 150 –, dann wurden es sukzessive weniger. „Wir Jugendlichen wurden erwachsen, wollten unsere eigenen Wohnungen und Häuser, aber Grundstücke und damit mögliche Neubauten – das war in Schellneck ja nicht möglich. Wir hatten, auch wenn wir sehr gerne bleiben wollten, keine andere Möglichkeit, als wegzugehen“, sagt Sauer. Auch ihn zog es weg, allerdings nicht weit. Er baute, wie seine Schwester, ein Haus in Altessing, lebt heute etwa 100 Meter Luftlinie von seinem Geburtshaus entfernt – in der Schellnecker Straße.

Straßenname ist alles, was blieb

„Dieser Straßenname ist alles, was uns Schellneckern noch geblieben ist“, sagt Christa Faber. „Das ist meine Empfindung, es war eine Vertreibung – unter der besonders unser Vater zu leiden hatte. Er hat es nie offen angesprochen, lieber alles in sich hineingefressen, aber dass er Schellneck mit dem Wissen verlassen musste, dass es zerstört wird, hat ihm den Boden unter den Füßen weggezogen.“

Dass Karl Sauer „gelitten hat“, davon ist auch Johanna Herold, dessen zweite Frau und Stiefmutter von Dieter Sauer und Christa Faber, überzeugt. „Er hat sich zwar nie beschwert oder geschimpft – er hat es als gegeben hingenommen –, aber es hat ihn stark mitgenommen.“

Karl Sauer war damals 50 Jahre alt, als die ersten Gerüchte aufkamen, dass Schellneck dem Main-Donau-Kanal zum Opfer fallen könnte. „Es war Gesprächsthema an den Stammtischen, auf dem Dorfplatz und in den Familien“, sagt Herold. „Seit dem Zeitpunkt, als es hieß, der Kanal kommt, war das so – aber niemand wusste etwas Genaues. Die Trassenführung wurde ja scheinbar immer wieder geändert, wir Anwohner aber stets in Unwissenheit darüber gelassen. Wir haben es geahnt, aber immer gehofft, es würde anders kommen.“ Was daraus entsprang, „war eine jahrelange, zehrende Unsicherheit. Müssen wir weg oder können wir bleiben – das hat an uns allen genagt. Selbst als in Gronsdorf und Riedenburg schon gebaut wurde, wussten wir immer noch nicht, was aus uns wird. In den Medien war das ja kein Thema.“

Es glich einem Martyrium

Deshalb war es für Johanna Herold und Karl Sauer „schon beinahe eine Erlösung, als die behördliche Mitteilung ins Haus flatterte, dass Schellneck abgerissen wird. Wir waren natürlich erschüttert, aber wir hatten zumindest Gewissheit.“ Was dann folgte, glich aber einem Martyrium, sagt Herold: „Uns blieb etwa ein Jahr Zeit, uns eine neue Bleibe zu suchen – und nicht nur das. Auch die Pappenfabrik wurde ja abgerissen. Karl und viele andere mussten sich eine neue Arbeit suchen. Es ging um Existenzen. Eine Entschädigung bekamen wir nicht – schließlich wohnten wir in einer firmeneigenen Wohnung zur Miete.“

Karl Sauer kam dann bei der Kartonagenfabrik in Riedenburg unter, lebte und arbeitete aber bis zum letzten Tag in Schellneck, während rundherum schon zig Häuser abgerissen wurden.“ Das war das Schlimmste“, sagt Johanna Herold, „mitzuerleben, wie nach und nach die Häuser von Baggern plattgemacht wurden, wie Schellneck Stück um Stück starb. Das waren ja nicht nur Häuser und Gärten, das waren Orte, mit denen man Erinnerungen verband – und uns allen war klar, dass es nun kein Zurück mehr geben würde.“

Das ist auch bei Dieter Sauer und Christa Faber, die mit ihrem Vater und dem jüngsten Bruder Rainer immer wieder die Abrissarbeiten besichtigten, hängen geblieben. „Es ist schon traurig, zusehen zu müssen, wie Bagger emotionslos Dinge abreißen, die einem selbst wichtig sind. Die Löwen an den Ortseingängen, auf denen wir als Kinder gesessen haben, der Baum, um den wir Fangerl gespielt haben oder das Haus, hinter dem man seinen ersten Kuss bekommen hat“, sagt Christa Faber.

Dieter Sauer geht sogar noch einen Schritt weiter: „Wenn ich darauf zurückblicke, dann bin ich immer noch enttäuscht. Meinen Kindern kann ich Schellneck nur noch auf Fotos zeigen. Ich denke, ich würde heute anders reagieren. Heute würden wir den Denkmalschutz mit an Bord nehmen und auch die neuen Möglichkeiten mit Social Media oder Online-Petitionen nutzen. Dieter Sauer glaubt, „dass wenn so etwas wie die Ausradierung eines Ortes heute passieren würde, die Leute sicher auf die Barrikaden gehen würden.

Dieter Sauer lässt seinen Blick noch einmal über das ehemalige Schellneck – seinen Geburtsort – schweifen, dann lenkt er seine Schritte heimwärts – Richtung Schellnecker Straße. An der hölzernen Brücke hält er wieder kurz inne, streicht über das Geländer: „Ich gehe schon oft hierher, auch unbewusst – dann kommen immer wieder mal Erinnerungen hoch. Hauptsächlich positive.“ Nur auf diese Weise lebt das Postkartenidyll Schellneck noch – „in meinem Kopf und in denen von etwa 20 gebürtigen Schellneckern, die es heute noch gibt.“

Diese Erinnerungen will er sorgsam pflegen, „denn es ist im Laufe der Zeit schon zu viel verloren gegangen. Alles kommt und geht, das was bleibt sind die Erinnerungen, heißt es doch. Wenn meine Generation aber nicht mehr ist, dann sind auch unsere Erinnerungen gestorben – und Schellneck damit endgültig ausradiert.“

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