Zeiterscheinung
Graffiti-Galerie entlang der Bahngleise

Kunst oder Straftat? Entlang der ICE-Neubaustrecke zwischen Nürnberg und Bamberg sind Nacht für Nacht Sprayer unterwegs.

15.09.2016 | Stand 16.09.2023, 6:48 Uhr
Schallschutz-Kunst oder Schallschutz-Vandalismus mit seinem natürlichen Feind, dem Grünzeug, im Vordergrund. −Foto: Pelke

Ihren Namen wollen die jungen Männer nicht in einem Artikel lesen. Eine Meinung haben die Bauarbeiter trotzdem. „Wenn wir weg sind, kommen die Sprayer mit ihren Farbdosen und machen alles kaputt“, ärgert sich der große Blonde mit dem sonnengebräunten Gesicht und stellt seine Schaufel kurz auf den Boden. Momentan errichtet die Truppe den Schallschutz in Erlangen. Noch glänzen die Wände in makellosem Grau in der Sonne. Südwärts schaut die Sache anders aus.

Schaden von 30 Millionen Euro

Immer mehr Farbkleckse zieren die hohen Planken entlang der neuen ICE-Strecke zwischen Nürnberg und Fürth. Bald werden Erlangen und Bamberg an der Reihe sein. Eine kilometerlange Graffiti-Galerie entsteht in Franken und wächst Nacht für Nacht langsam, aber stetig heran. Zugreisende kennen die bunten Schriftzüge fast so gut wie Fahrpläne. Autofahrer können die „Tags“ (verschnörkelte Signaturen) und „Pieces“ (bunte Schriftzüge und Bilder) schon von weitem erkennen. Noch genauer hat die Bahn die bunten Hinterlassenschaft der Farbdosen-Freunde im Blick.

Denn der Schaden, der dem Staatsbetrieb dadurch entsteht, beläuft sich nach Konzernangaben jedes Jahr auf rund 30 Millionen Euro. 2014 hat die Bahn 19 350 „Graffiti-Straftaten“ im ganzen Land registriert. Betroffen seien neben Bahnsteigen, Brückenpfeilern, Güterzügen und S-Bahnen vor allem Lärmschutzwände. Das ärgert die Bahn besonders. Schließlich sollen die Wände nicht nur die Ohren schützen, sondern auch die Augen schonen. Dafür geht der Betrieb bei der Farbwahl sogar auf die Wünsche der Kommunen ein. Nürnberg hat einen roten Rallyestreifen. Erlangen hat sich für verschiedene Grautöne entschieden.

„Da muss man sich keine Illusionen machen.“Axel Gercke

Lange werden die Wände nicht unbefleckt bleiben, ist sich Axel Gercke sicher. Der 37-jährige Künstler hat vor seiner Karriere als Maler selber die umstrittenen Farbdosen geschwungen. Er weiß, wie die „Sprayer-Szene“ tickt, auch wenn er den Pinsel inzwischen nur noch in Öl tunkt. „Da muss man sich keine Illusionen machen“, sagt Gercke und prophezeit, dass sich die Sprayer auf die Lärmwände stürzen werden. Die freien Flächen seien für die Graffiti-Künstler einfach zu verlockend. In der Graffiti-Szene gehe es darum, mit seinen Werken im öffentlichen Raum aufzufallen.

Dem normalen Betrachter falle es freilich schwer zu entscheiden, welches Graffiti gut oder schlecht sind. In diese Subkultur von Außen einzudringen sei extrem schwer. In der Welt der gesprühten Codes und Zeichen drehe sich alles um den „Style“.

„Goldene Regel“ nicht akzeptiert

Gercke hat festgestellt, dass heute immer mehr Fußballfans zur Sprühdose greifen. Meistens wollen damit fanatische Ultra-Fans ihre Teams befeuern. Die würden sich laut Gercke auch nicht mehr an die „Goldene Regel“ halten. Übermalt werden dürfen nur schlechte Graffiti von anerkannten Könnern in der Szene.

Früher fühlte sich die Szene fast ausschließlich dem Hip-Hop verbunden. Im New York der 60er Jahre ist die Sprühkunst im Gleichschritt mit der Rapmusik entstanden.

Die Sprayer-Szene zieht laut Bahn heute vor allem männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren an. Anders als zu Beginn der Graffiti-Ära, als die Sprayer vorrangig aus sozial schwachem Umfeld stammten, kämen sie mittlerweile aus allen gesellschaftlichen Schichten.

Die zwei Bauarbeiter haben freilich einen frommen Wunsch. „Wir würden uns freuen, wenn sich die Graffiti-Künstler genauso anstrengen würden wie wir.“ Denn manche Werke finden die beiden richtig gut.