Jahresrückblick
Das Orphée: Revolutionär und bourgeois

Das Regensburger Lokal ist ein „Aquarium mit bunten Fischen“, sagt Neli Färber. Seit 40 Jahren ist es ein Spiegel der Zeit.

30.12.2017 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr

„Du hast im Hirn ein Abbild davon, wie es werden soll. Und dann ist es deine Lebensaufgabe, dein inneres in ein äußeres Bild zu verwandeln.“ Foto: Florian Hammerich

Die Frage ist, ob sich im Orphée das Leben abspielt. Oder ob man sich im Orphée dem Leben entzieht. Ist es also Flucht vor all den lästigen Dingen des Alltags wie kochen, Kaffee sieden, einkaufen, Wein entkorken, Leute einladen sowie vor einer bisweilen auch ansonsten arg lebensfeindlichen Umwelt? Oder ist es Bühne für alle möglichen Eskapaden? Für beides finden sich Belege. Und für beides gibt es in Regensburg seit 1977 keinen besseren Ort.

Ein zufälliger Samstagabend. Madame – um die 60, blonde Haare, rote Lippen, hohe Schuhe – ist dekolletiert, ihr Begleiter sichtlich entflammt. Dazu werden Crêpes serviert und am Tisch flambiert, es geht heiß her. Im Restaurant feiert eine Gesellschaft Geburtstag, was im Orphée eine Ausnahme ist. Die Musik schwappt nach vorn ins Bistro, Stammgäste schwappen vom Bistro nach hinten. Es wird getanzt. Ruhiger sind die Plätze rechts und links neben dem Fenster zur Gasse. Da kann man auf den rotsamtenen Sesseln ums Eck die Köpfe zusammenstecken und gleichzeitig alles im Blick haben. Oder sehr gut allein sein und doch nicht einsam. Hier sitzt ein Mann solo – runde Brille, spitze Nase, Dreitagebart – vor sich einen Wein und eine Zeitung, von der er immer wieder aufschaut.

Raum, Zeit und Materie

40 Jahre Orphée also. Nun könnte man einfach sagen: Lest’s das Buch – und damit ist es gut. Cornelius Färber ist einer der vier Gesellschafter der Namenlos GmbH, denen das Orphée gehört, und der kreative Kopf. Er hat alles aufgeschrieben und mit unzähligen Fotos zu einem amüsanten, hintergründigen und umfassenden Werk über seinen, unseren, den Kosmos Orphée arrangiert:„Orphée oder Ewig währt am längsten“. 40 Jahre Raum, Zeit und Materie in der Regensburger Unteren Bachgasse.Das – und nicht weniger – wurde im Oktober 2017 gefeiert.

„Ein Déjà Vu? Wo war ich? War ich hier nicht schon mal vorher gewesen?“Wim Wenders, Regisseur

Man könnte genauso sagen: Lest, was Wim Wenders über das Orphée schreibt. „Als ich mich da zum ersten Mal hineingesetzt habe, habe ich auch erst mal nur ungläubig um mich geschaut. Ein Déjà Vu? Wo war ich? War ich hier nicht schon mal vorher gewesen?“ Der Regisseur fühlt sich an die berühmten Restaurants und Kaffeehäuser großer Metropolen erinnert. „Wer würde erwarten, in einer verhältnismäßig kleinen süddeutschen Stadt, beim Schlendern durch die Altstadt, auf genau so ein Café zu stoßen.“ Weiter schreibt er: „Und natürlich gibt es so einen Ort nicht ganz von allein. Da gehört auch eine Stadt dazu, die so ein Lebensgefühl möglich macht.“

Neli Färber sagt: „40 Jahre Orphée sind 40 Jahre Regensburg. Das Orphée ist ein Spiegel der zeitlichen Umstände.“ Und der Stadt. Und weil das so ist, ist dieser40. Geburtstagnicht nur eine Randnotiz im Geschäftsleben. Wer Regensburg verstehen will, für den reichte es früher vielleicht, in den Kneitinger zu gehen. Längst aber sollte er auch die Toreinfahrt des stattlichen Barockhauses nehmen, wo die Leute an der frischen Luft, aber mit einem Dach über dem Kopf und einem Glas Wein rauchen.

Er sollte Platz nehmen im Restaurant, wo alle eng beieinander sitzen. Oder sich vor der Bar unter die Debatten der Stehgäste mischen, deren Traube den Bedienungen dauernd im Weg steht. Keiner teilt sich hier nur einem mit, jeder teilt seine Worte auch mit den Nachbarn. Das Hören und Gehörtwerden erzeugt ein Miteinander, egal ob man sich kennt oder nicht, ob man ein Regensburger ist oder ein Tourist, ob man allein einen Tisch hat oder mit anderen.

„Wer ins Orphée will, muss sich unterwerfen“, sagt Neli Färber. Und sie tun es. Das heißt: Keine Spießigkeiten. Regensburger zuerst. Hotelgäste müssen sich hinten anstellen. Keine großen Gruppen, schon gar nicht von außerhalb. Keine abgeschlossenen Feiern. „Wer feiern will, muss es unter den Leuten tun.“ Färber führt Regie, nicht anders als Wim Wenders in einem Film: Eine Idee wird Wirklichkeit. „Du hast im Hirn ein Abbild davon, wie es werden soll. Und dann ist es deine Lebensaufgabe, dein inneres in ein äußeres Bild zu verwandeln.“ Tendenziell sei er dabei übrigens am besten, wenn Probleme auftauchen. Seine beiden Leitsprüche stammen aus der Filmwelt, der eine von Walt Disney: „If you can dream it, you can do it“ – wenn du es dir vorstellen kannst, ist es machbar. Der andere aus seinem Lieblingsfilm, dem cineastischen Meisterwerk „Der Leopard“ von Luchino Visconti, besagt sinngemäß: Die Dinge müssen sich wandeln, damit alles bleibt, wie es ist. Revolutionär und bourgeois auf einen Streich, so ist das Orphée.

In Aigues Mortes in der Provence hatte Färber einst ein Lokal entdeckt, das dieses Bild in seinem Kopf prägte: So ähnlich sollte es werden. Michael Laib, Johanna Rudolph, Reinhard Wagner, Neli Färber und weitere Mitstreiter führten bereits das „Namenlos“, das „Jenseits“ und das „Ambrosius“ in Regensburg. Dann wurde ihnen die alte Schankstube der Brauerei Bolland angeboten. Das dunkle Holz an den Wänden passte ins Bild – der erste Mosaikstein. Die Vertäfelung stammt von 1896, gebraut wurde im Hinterhaus, wo später die Diskothek Sudhaus drin war und nun die Bodega spanisches Flair verbreitet.

Möbel mit Vergangenheit

Die Bierstube verwandelte sich in ein Stück Frankreich. Die schweren Marmortische fanden sie in einem Stuttgarter Kasino, die Wiener Kaffeehausstühle hatte ein Kurhotel ausrangiert, an die Decke hängten sie umgedrehte Gaslaternen. Die Spiegel an den Wänden zierten einst Schranktüren und das eine oder andere antike Möbelstück stand zuvor bei Familie Färber zu Hause. „Das Beste muss immer ins Orphée“, sagt Neli Färber, das sei heute noch so. Wenn er zwei Bilder hat, hängt er das, das ihm besser gefällt, ins Lokal, das andere lehnt zu Hause an der Wand. „Ich schaue, was mir gefallen würde, und hoffe, dass es dann auch den Leuten zusagt.“

Jedes Teil hat Vergangenheit im Gepäck, die Fliesen, die Hähne, die grünen Tassen, die Möbel, die Plakate, die Kunstwerke. Und jeder Mitarbeiter, jeder Gast bringt seine Geschichten mit, ein bunter Haufen. Nichts gehört ursprünglich zusammen, aber im Orphée fügt es sich zu einem lebendigen Werk, an dem fortlaufend weitergedichtet wird. „Das Orphée ist ein vitaler Ort, keine Institution“, sagt Neli Färber. „Wir justieren nach und frischen auf. Das ist keine Strategie, sondern geschieht aus dem Impuls heraus. Damit man nicht einschläft.“

1994 gründeten Färber, Rudolph, Laib und Wagner am Kohlenmarkt ein Hotel mit 15 individuell eingerichteten Zimmern. 2004 kam die Dépendance im Stadtamhofer Andreasstadel mit zehn Zimmern hinzu. Im Mai 2005 eröffneten sie nach der Sanierung im Stammhaus ein Hotel.

„Du musst fördern, was du wenig hast und zurückdrängen, was du viel hast.“Neli Färber

Der Ausbau barg freilich auch Gefahren, und wenn Neli Färber das erzählt, meint er nicht solche finanzieller Art, dafür wären seine Kollegen zuständig. Er meint vielmehr die atmosphärischen Verwerfungen im sensiblen Gefüge eines Publikums, wenn vieles neu ist und ohne Abnutzung, wenn plötzlich komische Hotelgäste mit hochfahrenden Ansprüchen die Gaststube bevölkern. Färber beschreibt das Orphée gern als Aquarium mit bunten Fischen. Letztere reagieren empfindlich auf Klimaveränderungen. Man musste also auf der Hut sein, das Schräge unterstützen und den Mainstream parieren. „Sonst wäre es nicht so, wie es ist.“ Also lieber eine Schwulenhochzeit als eine normale, zum Beispiel. „Du musst fördern, was du wenig hast und zurückdrängen, was du viel hast.“

Der Subtext des Orphée

Vom Regensburger Potenzial hält Neli Färber viel, mittlerweile. „Wir alle hatten mal den Impuls, wegzugehen, ich eingeschlossen. Wenn ich gefrustet war, habe ich schon mal gedacht: Mensch, ist das alles spießig hier.“ Anderswo tollere Leute treffen, bessere Orte finden. Und dann überholt die Realitätsschiene die Wünsche. „Weil sich hier bildet, was man sich anderswo erhofft hat.“ Das ist im Grunde genommen der Subtext des Orphée, den jeder einigermaßen feinfühlige Gast unbewusst wahrnimmt.

Es ist auch der Subtext einer Stadt, die sich in den letzten 40 Jahren von dem Wunsch emanzipiert hat, wie andere zu sein, und sich wieder auf das Erbe einer stolzen reichsfreien Metropole besinnt. Ein Regensburger ist vielleicht ein Oberpfälzer – jedoch nur auf dem Papier. Analog zur Entwicklung des Orphée sagt Neli Färber: „Wir brauchen nicht, was andere haben. Wir müssen nicht alles haben. Dabei gibt es in Regensburg fast alles an Stil, Intensität und Leidenschaft.“ Provinz tickt jedenfalls anders. Regensburg, das sei wie „dahoam in Friedrichshain“. „Die Mischung gefällt mir eigentlich ziemlich gut“, gibt Färber zu. Inzwischen sei so viel Berlin und Paris hier entstanden, das sei klasse.

„Mich hat nur meine kleine Welt interessiert.“Neli Färber

Im Oktober 1977, als das Orphée gerade entstand, regierte in Deutschland der Terror der RAF, „und wir haben das kaum mitbekommen“. Das Augenmerk galt „dem Besteck, den Gläsern, der richtigen Mischung des Crêpe-Teigs“, heißt es im Vorwort des Orphée-Buchs – die Bourgeoisie habe also noch einmal gewonnen. „Mich hat nur meine kleine Welt interessiert“, sagt Neli Färber. „Fluctuat nec mergitur“ – sie schwankt, aber geht nicht unter – der Wahlspruch von Paris schmückt den Zapfhahn an der Bar und thront damit über den Alltagsfluchten im Orphée. Übrigens ist er seit den blutigen Anschlägen vom November 2015 in Paris auch der Slogan des Widerstands gegen den Terror.

Das war das Jahr 2017:Lesen Sie in unserem Jahresrückblick, was in der Region passiert ist..

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