Kultur
L+S zieht’s nach Berlin

Sie haben Regensburg mit Kunst beschenkt, irritiert und provoziert. Nach 20 Jahren an der Donau sagen die Herausgeber der Kunstzeitung jetzt: Ciao.

25.03.2013 | Stand 16.09.2023, 7:24 Uhr

Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid vor dem Dom: Ab September sind sie Berliner. Foto: MZ-Archiv

Gabriele Lindinger und Karlheinz Schmid: ein Duo wie Nitro und Glyzerin. Wo sie auftreten, sprühen Funken, entzünden sich Debatten um Kunst und Co., strahlen Ideen und, ja, glitzert der Glamour.

Das Paar fällt auf im Regensburger Stadtbild: Er im schmal und präzise geschnittenen Anzug, mit Schuhen, die gern aus so ausgefallenem Stoff wie Rochenhaut sein dürfen, sie in einem McQueen-Kleid oder mit Ozelot-Hut, so sind sie ab und an auf ihrer Hausroute von der Margaretenstraße 8 ins Städtchen zu sehen. Das ist die Außenseite von Lindinger+Schmid. Den Inhalt saugt das Paar aus der Kunst: als Herausgeber der Kunstzeitung in erster Linie.

Das Blatt serviert seit 1996 jeden Monat Kritiken, harte Nachrichten und Randbetrachtungen zum internationalen Kunstbetrieb und steht für einen offenen Kunstbegriff, der bis an die Tischkante von Sternekochkunst oder bis zur Steppnaht innovativen Designs reicht. Die Gratispublikation liegt an allen einschlägigen Adressen im deutschsprachigen Raum auf. An die 40 Millionen Zeitungsexemplare, überschlägt Carlo Schmid, sind bis heute an der Margaretenstraße entwickelt worden, der spektakulären Auflage von 200.000 Stück sei Dank.

„Andere gehen in Rente“

Lindinger ist Jahrgang 1952, Schmid ein 1953er. „Andere gehen in dem Alter in Rente“, sagt Gabriele Lindinger. „Wir geben noch mal Gas.“ L+S beziehen im September in Berlin-Schöneberg/Friedenau drei Etagen eines historischen Blocks und richten ihren Verlag neu ein – auf 1200 Quadratmetern. Ging’s nicht eine Nummer kleiner? Carlo Schmid zählt die vielfältigen Arbeitsfelder auf, die Platz brauchen. Allein seine private Sammlung macht schon 40 000 Bände aus, dazu kommen Archiv und L+S-Buchreihen, die seit 1991 erscheinen. „Größenwahn“, die allererste Publikation, zeigte Projekte, die Ideen blieben, weil sie zu groß waren für die Realität.

Ein Netz von 40, 50 Kunstkennern schreibt für L+S. Wichtige Mitarbeiter vor Ort machen den Umzug nach Berlin mit, ein Teil wird in der Hauptstadt neu engagiert. „Auch da“, sagt Schmid, „ist Berlin natürlich ein attraktiveres Pflaster als Regensburg.“ Wie sehr der Wechsel euphorisiert, kann man hören am gesteigerten Tempo, in dem L+S von den Chancen erzählen, und ablesen an der Recherche, mit der sich das Paar gedanklich schon in Berlin einwurzelt. „Marlene Dietrich und Helmut Newton sind in dem Bezirk geboren, David Bowie lebte eine Zeitlang da, Hertha Müller wohnt dort“, zählt Lindinger auf. Und der Renee-Sintenis-Platz, der an die neue Adresse grenzt, ist nach der Bildhauerin benannt, die den Berliner Bär geschaffen hat.

„Wir gehen ohne Groll“, sagt Carlo Schmid. „Es waren wunderbare 20 Jahre.“ L+S bezogen 1993 das 1500-Quadratmeter-Haus an der Margaretenstraße. Im Untergeschoss zeigten sie die ersten Jahre Kunst. Franz Erhard Walther, Jürgen Klauke, Bernhard Blume, Hermann Nitsch und Jochen Gerz sind ein paar der großen Namen, die L+S nach Regensburg holten. Der Kunst-Adel gab sich in der Margaretenstraße die Klinke in die Hand. L+S haben Regensburg mit Kunst beschenkt, irritiert und provoziert. Kunstvermittlung gehörte von Anfang an zum Konzept. Buchreihen und ein ausgiebiges Seminarangebot mit Denkern wie Jean-Christophe Ammann und Manfred Schneckenburger wurden entwickelt, Performance und Installation machten ein Gutteil des Programms aus. Lindinger: „Wir wollten nicht die übliche Kunst zum An-die-Wand-hängen.“ Schmid: „Gute Galerien gab’s ja. Was fehlte, war Kunst im öffentlichen Raum.“

Denkwürdiges taucht beim Abschiedsgespräch aus dem Gedächtnis auf, Gloria Friedmann etwa. Die Künstlerin inszenierte in Kumpfmühl ein tableau vivant, ein lebendes Gemälde also, mit Brauereigäulen, mit Schrottautos und Menschen. „Das Problem“, erinnert sich Lindinger, „waren nicht die Pferde oder Wracks, sondern die Leute, die stundenlang in der Hitze stehen sollten.“ Alle verfügbaren Freunde wurden abkommandiert – und das Projekt war gerettet.

Al Hansen als Stargast im Scala

Eine andere Preziose aus dem L+S-Schatzkästchen war die Arena di Scala, eine Kunstnacht in der Altstadt-Disco. Fluxus-Urgestein Al Hansen kam. Seine erste legendäre Aktion – er warf ein Klavier aus dem fünften Stock eines zerbombten Hauses – nannte er nach seiner damaligen Freundin Yoko Ono „Yoko One Piano Drop“. Im Scala wand sich Hansen an seinem 70. Geburtstag Paketband um den Kopf und deklamierte zu Gesängen sterbender Wale die Namen toter Fluxus-Freunde. So an- und aufregend wie mit L+S war Kunst in Regensburg selten. Nach zehn Jahren endete der Ausstellungsbetrieb. „Wir haben gesehen: Das Geld, das wir mit den Büchern verdienen, fressen Ausstellungen und Aktionen auf“, sagt Schmid. „Da haben wir irgendwann gesagt: Stopp.“

In den 1990ern mischte das Paar lokal kräftig mit, holte für den – später zerredeten – Neupfarrplatz-Wettbewerb Künstler wie Günther Uecker und Jochen Gerz. 2004/2005, im Endspurt der Jagd auf den Titel „Kulturhauptstadt Europas“, versuchten L+S noch, mit KulturKlub-Abenden, Christoph Schlingensief und Martin Kippenberger zu punkten – und lösten leidenschaftliche Debatten aus. Kunst wurde öffentliches Streitthema.

2,50 Euro pro Quadratmeter

„Nach 20 Jahren ist es Zeit für Neues“, sagen L+S. Den Anstoß gab der Baulärm im Karree. Zwei Jahre suchte das Paar intensiv, in Regensburg, dann, als sich nichts Passendes fand, in München, schließlich in Berlin. Eine Sache bleibt hier noch zu tun: Nachmieter finden für die Margaretenstraße 8, die die 1500 Quadratmeter bis Ende 2015 übernehmen. „Büro, Lager, Wohnung, sechs Parkplätze, Lastenaufzug – für 2,50 Euro pro Quadratmeter“, trommelt Schmid in eigener Sache.

„Regensburg war schön. Die Ruhe, das Familiäre“, sagt Schmid. „Aber die Anregungen fehlten“, sagt Lindinger. Bei Kunst-Tripps im Wochentakt tankte das Paar Impulse. Lindinger: „Künftig sitzen wir genau da, wo’s brennt.“ Schmid: „Wir freuen uns schon tierisch.“