Freiraum
Ostbayerns wildestes Wohnzimmer

Im Osten Regensburgs steht das wohl spannendste Wohnprojekt der Region. Wichtigster Sponsor: Immobilienunternehmer Schmack.

02.11.2016 | Stand 16.09.2023, 6:38 Uhr

Das Zuhause einer Familie mit Kind. Foto: Ronja Bischof

Samuel Winkler trägt ein schwarzes T-Shirt mit Aufdruck. Man sieht das Muster kaum noch, es hat in der Waschmaschine an Farbe verloren. Winkler hat dazu braune Jeans und Arbeitsschuhe an, seine Haare versteckt er unter einer beigefarbene Kappe. Er ist unrasiert. Neben ihm sitzt Martin Schmack. Er trägt ein enges Langarmshirt und Chinohose. Die Haare schimmern, der Scheitel sitzt perfekt. Seine Haut glänzt noch vom Rasierwasser. Jeder Windstoß wirbelt den herben Duft seines Parfüms in die Luft. Martin Schmack nimmt sich eine Zigarette aus der Packung und steckt sie sich an. Dann fängt er an zu erzählen.

Martin Schmack mit seinem akkuraten Scheitel und Samuel Winkler mit seinen wilden Bartstoppeln haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Schmack wohnt in einer Villa mitten in der Regensburger Altstadt, Winkler in einem Bauwagen am Stadtrand. Was sie verbindet, ist Winklers Zuhause: Schmack ist Besitzer eines Grundstücks im Regensburger Osten, auf dem Samuel seit sechs Jahren im Bauwagen lebt.

Die Geschichte um die Bauwagensiedlung im Regensburger Osten beginnt 2010. Schmack erwirbt das Grundstück, das 800 Meter östlich der ehemaligen Zuckerfabrik liegt: die Schäferwiese. Schafskot und zertrampelte Weiden wurden durch Heroinspritzen und Sperrmüll ersetzt. Hier treffen sich längst keine Schäfer mehr, sondern Junkies und Drogendealer.

Eigentlich beginnt die Geschichte der Bauwagensiedlung viel früher, im Sommer 1998. Samuel Winkler hat gerade sein Abitur gemacht. Er zieht für seinen Zivildienst von Baden-Württemberg nach Regensburg. Eines Abends lernt er Schmack beim Weggehen kennen. Sie verstehen sich gut, reden bei Wein und Zigaretten über Philosophie, sind auf einer Wellenlänge. Sie werden Freunde. Als Samuel Regensburg wegen seines Studiums wieder verlassen muss, bricht der Kontakt nicht ab. Er kommt einmal im Jahr zu Besuch.

2010, als Martin Schmack gerade die Schäferwiese gekauft hat, hat Samuel sein Studium der Philosophie und Rhetorik in Tübingen längst abgeschlossen. Er arbeitet in Teilzeit als Kulissenbauer und wohnt in einer 3-Zimmer-Wohnung. Doch Samuel merkt: Drei Zimmer braucht er gar nicht. Und den Job auch nicht. Er sehnt sich nach einer Veränderung. Dann erzählt ihm Martin Schmack von der Schäferwiese.

Bei seinem nächsten Besuch kommt Martin und Samuel bei einem oder mehreren Gläsern Wein eine Idee. Schmacks neu erworbenes Grundstück, die Schäferwiese im Osten Regensburgs, ist immernoch im gleichen Zustand. Schmack hat keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er möchte einen Landschaftspark daraus machen, einen Ort, der allen Regensburgern zugutekommen soll. Er redet sich in Rage, dass der Osten in Regensburg immer mehr an Attraktivität verliert. Schmack schüttelt den Kopf und schaut zu Boden. Er will etwas dagegen tun, und Winkler will ihm dabei helfen. Schmack hat das Geld, Winkler die Zeit. Samuel Winkler beschließt, alles zu ändern und geht auf das Angebot ein: Er kündigt seinen Job und seine Wohnung und zieht nach Regensburg auf die Schäferwiese.

Der erste harte Winter

15. Oktober 2010. Winkler wartet auf die Lieferung seines Lebens. Seinen Bauwagen. Den hat er auf eBay ersteigert. Er steht in der Kälte, seine Finger werden weiß, weil die Durchblutung nicht mehr richtig funktioniert. Er sieht seinen Atem, der vor ihm in der Luft steht. Für Samuel Winkler beginnt der erste Winter in seinem neuen Zuhause.

Doch als der Bauwagen da ist, gehen die Probleme weiter. Winkler hat keine Toilette. Nicht einmal fließend Wasser hat er. Deshalb läuft er jeden Tag zu Fuß mit einem 20-Liter-Kanister mehrere Kilometer zu einer Kleingartenanlage, wo er sich Wasser holen darf. Nach ein paar Tagen hält er es nicht mehr aus. Er ruft Martin Schmack an, zwei Tage später hat er ein Dixiklo.

In den ersten Wochen verbringt Winkler die Tage damit, Bäume zu schneiden und die Schäferwiese von dem Müll zu befreien. Nach und nach bekommen die Anwohner mit, dass sich auf der Schäferwiese etwas verändert. Sie stören sich nicht an dem neuen Bewohner, freuen sich sogar über den neuen Nachbarn. Als es sich herumspricht, möchten immer mehr Aussteiger wie Samuel Winkler auf der Schäferwiese im Bauwagen leben. Die Auswahl fällt ihm schwer. Man muss schließlich schon irgendwie zusammenpassen.

Heute wohnt Winkler längst nicht mehr allein. Er hat zehn Nachbarn: sieben Erwachsene und drei Kinder. Bauwägen haben sie genug – für Gäste und neue Bewohner. Interessenten müssen erst mal ein halbes Jahr auf Probe auf der Schäferwiese wohnen. Wenn das Zusammenleben in der Gemeinschaft klappt, dürfen sie mit eigenem Bauwagen einziehen.

Martin Schmack sitzt auf den makellosen Gartenmöbeln auf der Terasse vor seinem Bauwagen. Er wohnt nicht auf der Schäferwiese, aber kommt fast jeden Tag. Er nimmt sich die Zeit, um Abstand von seinem Job zu gewinnen, dem Trubel in der Innenstadt, um sich um seine Bienen zu kümmern. Zehn Völker haben hier ihr Zuhause.

Königreich Samuelien

Schäferwiese, so nennt die Anlage heute niemand mehr. Manche nennen es Paradies, weil hier so viel verschiedenes blüht, völlige Ruhe herrscht. Die Bewohner nennen es Königreich Samuelien. Königreich, weil laut Schmack in jeder Gemeinschaft ein Chef notwendig ist. Der Chef ist sein Freund Samuel, dem er vertraut. Ein König könne aber ohne seine Untergebenen nicht existieren, erklärt Samuel. Wenn es drauf ankommt, hat König Samuel das Sagen.

Regeln gibt es im Königreich Samuelien nicht. Sie haben auf einen Zaun verzichtet, weil sie möchten, dass die Leute kommen und sehen, wie sie leben. Das einzige, was sie von Besuchern verlangen, sei das Grüßen, schließlich laufen sie durch ihr „Wohnzimmer“. Er lacht laut auf. Dabei verschließt er seine Augen und wirft seinen Kopf zurück. Für ein paar Sekunden hört man im Königreich nur das Summen der Bienen und Samuels Lachen.

Null Zimmer-Küche-Bad

Samuels Augen funkeln, wenn er von dem neuen Luxus in seinem Zuhause erzählt. Er zappelt auf seinem Stuhl hin und her, steht plötzlich auf und läuft mit schnellen Schritten zum Gemeinschaftshaus des Königreichs: einem Container. Über eine Treppe aus Stahl geht er drei Stufen hinauf und steht in der beheizbaren Küche. An der Wand hängen grüne und weiße Zettel mit Anweisungen: Holz hacken, Müll sammeln, Gartenarbeit. Diese Arbeiten müssen jeden Tag erledigt werden. Daneben hängen weitere Zettel, auf denen „Bad verschönern“, „Radlunterstand bauen“ und „Pizzahütte: Strom legen“ steht. Als Überschrift: Anti-Langeweile-Plan. Im Hintergrund läuft die Waschmaschine. Es hört sich so an, als wäre etwas versehentlich mitgewaschen worden, doch es sind nur die Kastanien, die in der Trommel klappern. Sie ersetzen Waschmittel.Ein kleiner Flur führt zu zwei weiteren Türen. Auf der linken steht mit Edding geschrieben: Barfußbereich. Hinter der Tür befindet sich das Badezimmer mit Waschbecken, Wanne und Fenstern. Die Tür nebenan ist geschlossen, aber man kann durch eine fehlende Latte in der Holzwand durch einen circa zehn Zentimeter breiten Schlitz durchschauen: eine frei stehenden Toilette. Ein gelber Gartenschlauch ragt aus der Wand. Er ersetzt die WC-Spülung.

Als Aussteiger sehen sich die Bewohner des Königreichs nicht, eher als Einsteiger. Alle hatten vorher ein normales Leben, zahlten Miete, arbeiteten als Zimmermann, Elektriker oder Erzieher. Heute leben sie im Bauwagen und arbeiten in Teilzeit, um mehr Zeit für ihre Hobbies zu haben. Ein halbes Gehalt reiche aus, sagt Samuel, denn die Bewohner zahlen keine Pachtgebühr oder Miete, nur Grundsteuer und Nebenkosten. Für Samuel kommt es nicht in Frage, wieder in einer ganz normalen Wohnung zu leben und eine 40-Stunden-Woche zu haben. Er ist der Meinung: „Jeder, der Vollzeit arbeitet, weiß nichts mit sich anzufangen.“

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