Menschen
Schlangenfrauen tun sich leichter

Grit Hardy schlängelte sich durch vier politische Systeme. Nun feierte die Kontorsionistin in Regensburg den 95. Geburtstag.

19.10.2017 | Stand 16.09.2023, 6:30 Uhr

Die Schlangenfrau küsst ihre Ferse im Stehen: Mit dieser Nummer wurde Grit Hardy berühmt. Foto: Hardy

Sie küsst ihre Ferse nicht mehr im Stehen. So geschmeidig ist Grit Hardy alias Grit Arlon, die Schlangenfrau, mit 95 Jahren natürlich nicht mehr als damals, als sie die Soldaten bei der Truppenunterhaltung in Polen wegen ihrer Gelenkigkeit und auch sonst bewunderten.

Ihre Tochter, Artistin mit Einser-Diplom, chauffiert sie vom Haus in der Oberländerstraße an den Königswiesenweg 21, Sitz von „Magic Cycles Entertainment“. Während die „Mutter der Regensburger Einradszene“ einen Parkplatz für ihre vier Räder sucht, steht die liebenswürdige Grit Hardy in Jeans, roter Lederjacke und mit Stock auf dem Gehweg und sagt: „Gehen Sie voraus. Ich brauch etwas länger.“

Mit 95 acht Stockwerke hoch

Entlang der Steintreppe in den dritten Stock steigen die Gedanken auf: Die „Volkskunstschaffende“ hat Friedrich Ebert, Adolf Hitler, Walter Ulbricht, Erich Honecker, die Wende überlebt und sieht gerade über Berlin „Muttis“ Stern sinken. Oben unterm Dach der Mitmach-Zauberschule, wo ihre Tochter heute zauberhafte Geburtstagsfeste ausrichtet, erzählt sie mit ruhiger Berliner Stimme „vom Alex, meinem Kiez. Da bei den Springbrunnen fühl ich mich wohl.“

Drei Stockwerke sind kein Problem für die alte Dame. Seit 1964 wohnt sie in einem Hochhaus im achten Stock, hier hat sie ihre Kinder großgezogen. „Vor kurzem ist vier Wochen der Fahrstuhl ausgefallen. Da bin ich jeden Tag die Treppen runter und hab für die Leute noch die Post mitgebracht.“ UN-Diplomaten wohnten bis 1989 im Block und der Korrespondent der New York-Times einen Stock drüber. Heute ist das Publikum nicht mehr so illuster. „Einkaufen, Arzt ... Ich setze mir jeden Tag ein Ziel,“ sagt sie mit einem freundlichen Lächeln.

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Mit 85 Jahren hatte sie sich zum Ziel gesetzt, Einradfahren zu lernen, um ihrer einzigen Tochter in Regensburger bei ihren Guinness-Weltrekorden zu assistieren. Als sie in der Halle die Runde gedreht hatte, sagte sie: „Ich steig noch nicht ab.“ Das Verhältnis zu ihrer Tochter beschreibt sie als innig. „Meine Andrea ruft mich jeden Tag an. Und wenn ich morgens vom Bett aufschaue, fällt mein Blick auf das Bild meiner Tochter und den Spruch: „Mit Dank für meine liebste Mutti, die mir diesen traumhaften Beruf vererbt hat. Das freut mich unheimlich.“

„Mutti ist mein Maskottchen“

Heuer ist das Jahr der vielen Jubiläen: Sie ging noch nicht zur Schule, 1962, das stand Andrea erstmals auf der Bühne. Vor 40 Jahren schloss sie die Artistenschule der DDR ab. Im Oktober 1982 trat sie in Zürich erstmals als weibliche Charlie Chaplin Darstellerin auf. Vor 30 Jahren begann sie eine Karriere als Zauberclown Maxi.

Das alles wurde gefeiert, denn jetzt ist Mutti wieder da. Beim Herbstfest der Altstadt saß sie in den ersten Reihe, als die Tochter durch das Programm „Kinder für Kinder“ führte. „Mutti ist mein Maskottchen“, sagt Andrea Hardy. Wenige Tage zuvor hatte Grit Hardy ihren Ehrentag. „Ich bin am 1. 10. 1922 geboren.“

Die Hardys schrieben Brettl-Geschichte. Ihr verstorbener Mann Richard jonglierte 1934 in München als Ricc Talmany im Vorprogramm von Karl Valentin und Liesl Karlstadt. Auf dem Spielplan standen „Die Raubritter vor München“. Als die „Les Dorvils“ gastierten Richard und Grit Hardy in den Varietés Europas. Einer ihrer Original-Tricks war der sogenannte „moderne Tell-Schuss“: Richard Hardy schießt mit einem Bogen zwei Pfeile gleichzeitig. Einer trifft einen Ballon, den Grit in der Hand hält, der andere dreht sich in der Luft um und trifft blitzschnell einen Apfel, den Richard Hardy auf einer Gabel im Mund hält.

Richard Hardy war verdienter Volkskunstschaffender. „Den Vaterländischen hat er auch. Der Vater von Gregor Gysi, damals Kulturminister, hat ihn ihm umgehängt.“ Richard Hardy alias Ricc Talmany, Bäckersohn aus Dessau, hatte 1956 die Staatliche Schule für Artistik mitbegründet und war bis zu seiner Pensionierung deren künstlerischer Leiter.

Die Hardys hatten drei Jungs und ein Mädchen, Andrea. Die beschloss mit 14, Diplom-Artistin zu werden. Das war ein Beruf, mit dem das DDR-Mädel die Welt sehen durfte. „Vor Walter Ulricht hab ich auf dem Hochrad jongliert“, erinnert sie sich. Sie sah auch westliche Größen: Andrea Hardy assistierte Hans-Joachim Kulenkampff bei „Einer wird gewinnen“ auf dem Hochrad und unterhielt vier Jahre lang Kreuzfahrttouristen auf der MS Europa. 1979 hat sie „rübergemacht“.

Die Mitfünfzigerin ist ruhiger geworden. „Ich gehe weg von eigenen Shows und hinein in die Schulen. Seit neun Jahren ist Hardy Privatdozentin in den Marienschulen. Beim Von-Müller-Gymnasium ist sie seit zwei Jahren festangestellte Bewegungskünstlerin. Wie gut Artistik tut, zeigt ihre Mutti. Grit Hardy: „Meine Gesundheit habe ich meinem Beruf zu verdanken.“

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