Justiz
Wie eine tickende Zeitbombe

Martin P. hat zwei Kinder getötet. Dafür kam er in Hochsicherheitspsychiatrie. Dort hat er jetzt erneut versucht, zu töten.

10.11.2017 | Stand 16.09.2023, 6:23 Uhr

Seit seiner Verurteilung im Fall Peter im Jahr 2006 ist Martin P. im Bezirksklinikum Straubing – einer Hochsicherheitsklinik – untergebracht.Foto: dpa-Archiv

In der Urteilsbegründung hatte Richter Manfred Götzl im Januar 2006 deutliche Worte gefunden. Martin P. sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, er leide an einer schweren seelischen Abartigkeit, sei krankhaft pädophil gepaart mit sexuellem Sadismus. Und das Münchner Landgericht warnte, dass von dem Verurteilten weitere schwere Straftaten zu erwarten seien. Es sollte wohl recht behalten.

Nach den Morden an dem Regensburger Ministranten Tobias (11) im Jahr 1994 und elf Jahre später an dem neunjährigen Münchner Schüler Peter hat die Staatsanwaltschaft Straubing erneut Anklage gegen den inzwischen 41-jährigen gebürtigen Regensburger erhoben. Der Vorwurf lautet: Versuchter Mord. Der seit seiner zweiten Verurteilung in der Hochsicherheits-Forensik am Bezirksklinikum Straubing untergebrachte Sexualstraftäter soll einen Mitinsassen mit einem Hammer attackiert und schwer verletzt haben. Beim Landgericht Regensburg heißt es, dass in Kürze über die Eröffnung eines Hauptverfahrens entschieden wird.

Der Wiederholungstäter Martin P. hatte 2005 eine Debatte darüber entfacht, ob auch nach Jugendstrafrecht verurteilte Täter nach Verbüßung ihrer Haft in Sicherungsverwahrung genommen werden können, wenn Gutachter davon ausgehen, dass weitere schwerwiegende Straftaten zu erwarten sind. Zehn Monate nach seiner Haftentlassung hatte P. zum zweiten Mal ein Kind getötet. Besonders rückfallgefährdete Sexualstraftäter, die aus der Haft entlassen wurden, sind seit dieser Tat beim Polizeipräsidium München in einer sogenannten Haft-Entlassenen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter (HEADS) registriert. Die gesetzliche Grundlage für eine Sicherungsverwahrung für jugendliche Straftäter folgte erst Jahre später – wieder in einem Regensburger Fall. Der sogenannte Joggerinmörder wurde 2009 nach Verbüßung seiner Jugendstrafe nicht in die Freiheit entlassen. Er klagte dagegen durch alle Instanzen. Erst im Februar 2017 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, dass deutsche Gerichte auch nach der Verbüßung von Jugendstrafen die Sicherungsverwahrung anordnen können, dies sei kein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.

Im Fall von Martin P. sorgte erst das Landgericht München 2006 mit seinem umfassenden Urteil für eine dauerhafte Unterbringung. Es verhängte die härtestmögliche Strafe: Die Unterbringung in der Psychiatrie, eine lebenslange Haftstrafe sowie die Sicherungsverwahrung. Der zweifache Kindermörder sollte nach dem Willen der Richter möglichst nie mehr auf freien Fuß kommen.

Seltenes Maß an Mitleidslosigkeit

Doch wer ist dieser Mann, den Kriminalpsychologen als nicht therapierbaren Soziopathen einstufen und dem Gutachter ein seltenes Maß an Mitleidslosigkeit bescheinigen? Martin P. wuchs im Regensburger Stadtwesten auf. Er besuchte die Hauptschule und machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Die Erziehung war streng religiös, insbesondere der Vater übernahm diese Aufgabe, denn die Mutter war schwer krebskrank.Als Jugendlicher ministrierte P. in der Kirchengemeinde Herz Marien, dort traf er auch auf sein erstes Opfer – den Ministranten Tobias.

Über 70 Mal hieb der 18-Jährige an jenem 13. Oktober 1994 mit einem Messer auf den arglosen Jungen ein, den er zuvor in eine Falle gelockt hatte. Drei Stiche waren tödlich, die anderen sollten dem Jungen offensichtlich massive Schmerzen zufügen. „Der Täter lebte dadurch seinen Sexualtrieb aus“, stellte die Polizei in den Ermittlungen fest. „Nach den Zeugenaussagen mussten wir davon ausgehen, dass wir es mit einem äußerst brutalen Menschen zu tun haben“, erinnert sich viele Jahre später ein Einsatzbeamter im Gespräch mit unserem Medienhaus. P. stellte sich zwei Tage nach der Tat, begleitet von seinem Vater. Neun Jahren Jugendstrafe lautete das Urteil, ein weiteres halbes Jahr Haft erhielt P., weil er während seiner Haftzeit gegenüber einem Therapeuten einen sexuellen Übergriff auf einen Buben im Westbad einräumte. Damals war er 16 Jahre alt.

Seine Strafe saß er in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim ab, wo er den Vater seines zweiten Opfers kennenlernte. Als P. im April 2004 unter Bewährungsauflagen aus der Haft entlassen wurde, galt er laut einem Gutachten weiterhin als gefährlich, aber nicht psychisch krank. Zurück in der Freiheit hielt sich P. weder an Auflagen noch an Therapievorgaben. Er suchte den Kontakt zur Familie seines Mithäftlings, passte sogar auf die Kinder, darunter den neunjährigen Peter auf, obwohl ihm dies wegen seiner pädophilen Neigungen untersagt war.

P. ließ nicht von seinem Plan ab

Doch trotz der Warnung der Gutachter funtionierte die Kontrolle offensichtlich nicht. Und P. plante seine nächste Tat, deren grausame Details später auch das Gericht fassungslos machten. Im Februar 2005 fing P. den Buben nach der Schule ab und nahm ihn mit in seine Unterkunft, wo er sich an ihm verging. Als sich Peter wehrte und zu weinen begann, würgte ihn sein Peiniger. Danach ließ er noch einmal von seinem Opfer ab, worauf hin ihn der Junge umarmte. Doch P. habe nicht mehr von seinem Plan ablassen wollen, wertete später das Landgericht München. Er erstickte den Jungen mit einer Mülltüte. Dann half er den Eltern, nach ihm zu suchen. Als er in seine Unterkunft zurückkehrte, verging er sich noch an dem toten Kind, bevor er es in einen Container warf. Das Münchner Sozialreferat sagte nach der zweiten Tat, das Gefährdungspotenzial des Mannes sei dem Amt nicht übermittelt worden.

Und nun zeichnet sich ab, dass Martin P. wohl ein drittes Mal vor Gericht kommt. Mittlerweile sitzt er seit mehr als zehn Jahren in der Hochsicherheits-Forensik im Bezirksklinikum Straubing. Im Gegensatz zu anderen Maßregelvollzugseinrichtungen erfolgt die Unterbringung der Patienten hier ausschließlich auf geschlossen geführten Stationen. Lockerungen des Vollzugs werden nicht gewährt, teilte das für die Einrichtung zuständige Zentrum Bayern Familie und Soziales auf Anfrage mit. Dennoch ist es Martin P. wohl trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gelungen, sich einen Hammer zu beschaffen. Mit diesem soll er bei einem gemeinsamen Fernsehabend auf einen Mitpatienten losgegangen sein.

Das Tatwerkzeug könnte P. in der Arbeitstherapie entwendet haben, sagt der zuständige Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Fiedler gegenüber unserem Medienhaus auf die Frage, wie es möglich sein kann, dass ein Patient einer Hochsicherheitsklinik an ein Werkzeug gelangt. Beim Bezirksklinikum will man wegen des laufenden Verfahrens zu einer möglichen Sicherheitslücke vorerst keine Angaben machen. Nach dem Vorfall sei aber eine „konkretisierende aktualisierte Dienstanweisung der Maßregelvollzugsleitung an die Beschäftigten der Maßregelvollzugseinrichtung zur Beaufsichtigung der untergebrachten Personen“ ergangen, heißt es.

Anklage spricht von Heimtücke

Die Anklagebehörde geht von einer heimtückischen Tat aus. Es habe im Vorfeld keinen Streit zwischen P. und seinem Opfer gegeben, sagt die Staatsanwaltschaft. Warum der Fall, der sich bereits im Oktober 2015 ereignete, erst jetzt zur Anklage kam, begründet Fiedler mit einem Gutachten, das erneut die Schuldfähigkeit des 41-Jährigen untersuchte. Bei Martin P. sei eine erhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit festgestellt worden.

Bereits im Prozess um den gewaltsamen Tod des kleinen Peter hatte der Gerichtspsychiater eine düstere Prognose gestellt: Er bewertete die Heilungschancen von Martin P. als „extrem gering“. Und noch früher, nach dem Mord an Ministrant Tobias, hatte sich der österreichische Kriminalpsychologie Thomas Müller mit Täter und Tat beschäftigt. Er kam aufgrund der Art der Verletzungen zu dem Schluss, dass P. sich an den Qualen seines Opfers stimuliert hatte. Und er sagte voraus, was später mit dem Tod von Peter zur Gewissheit wurde: „Die kriminelle Karriere von Martin P. ist noch längst nicht zu Ende.“ Er sei eine tickende Zeitbombe.

Lesen Sie hier ein Interview mit dem früheren stellvertretenden Gefängnisdirektor von Straubing über die wachsende Gefährlichkeit weggesperrter Täter