Menschen
Dr. Schindler zeigt täglich Flagge

Jeden Tag zieht der Regensburger eine andere Nationalfahne auf. Mit dieser Farbenparade dürfte er ohne Beispiel sein.

02.10.2015 | Stand 16.09.2023, 6:57 Uhr
Helmut Wanner
Dr. Theophil Schindler zieht in seinem Garten in der Neufferstraße ausnahmsweise erst mittags die Fahne hoch. Es sind die Farben Brandenburgs. −Foto: altrofoto.de

194 Nationen gibt es auf der Erde. 190 leben in Deutschland. So bunt wie die „Buntesrepublik“ ist der Fahnengarten des Dr. Theophil Schindler in der Neufferstraße 4. Er zelebriert seit der deutschen Einheit, die sich im Oktober 1990 offiziell vollzog, seine spezielle Form von Willkommenskultur. Damals hieß er die fünf neuen Bundesländer willkommen. Jetzt den Irak, Syrien und Afghanistan, aber das eher zufällig, wie es gerade kommt. „Deren Flaggen wechseln öfter ihre Embleme“, weiß Dr. Schindler. Er muss nachbestellen.

Jeden Tag um 6 Uhr, bevor er zur Arbeit in seine eigene Klinik in der Adolf-Schmetzer-Straße radelt, in der weibliche Vertreter von fast einem Dutzend Nationen und zweier Weltreligionen arbeiten, macht er seine Ein-Mann-Fahnenparade im Garten, ohne Musik, denn die Domspatzen gegenüber schlafen noch. Er zieht in der Südostecke seines Grundstücks Landesfahnen auf, die flatternden Zeichen der Souveränität und des Zusammengehörigkeitsgefühls. Meist nimmt er sie so wie sie auf den drei Stößen in seinem Keller kommen. 180 liegen da, er hat sie gezählt. Wenn man eine Flagge zwei Mal pro Jahr aufhängt, halten sie praktisch ewig.

„Die Kinder waren’s. Von jedem Urlaub haben sie eine Fahne mitgebracht.“Dr. Theophil Schindler

Mit seiner privaten Flaggenparade dürfte Dr. Theophil Schindler ein Regensburger-, wenn nicht ein Welt-Unikat sein. Zugegeben: Ab und zu hängen die Regensburger die Bayernfahne raus. Aber nur wenn der FCB in der Champions League gewonnen hat. Sonst tun sich die Deutschen eher schwer damit, öffentlich Flagge für ihre Nation zu zeigen.

Am Mittag flattert der rote Adler Brandenburgs am Alu-Fahnenmast. Der Herbstwind macht sich sichtbar. Er wirft die reifen Früchte vom mächtigen Walnussbaum, der hier seit 1935 steht. Theophil Schindler empfängt in seiner Mittagspause bei kühlen Temperaturen am Gartentisch, der noch nicht abgeräumt ist. Die rote Katze Pongo schnurrt ums Haus, während der Fahnenliebhaber von den Anfängen erzählt.

„Die Kinder waren’s. Von jedem Urlaub haben sie eine Fahne mit nachhause gebracht.“ Sein ältester, ein Jahn-Fan habe sich sogar hingesetzt und eine Jahn-Fahne genäht. „Und zwar richtig: Weiß-Rot.“ Nicht Rot-Weiß wie die Fahnen, die die geschichtsvergessenen Fans im Stadion schwenken. Bei jedem Jahn-Heimspiel ist er dabei – mit Bananenflankeschal, Jahn-Mütze und Jahn-T-Shirt „Für immer Jahnstadion 1926 - 2015“.

Ein Domspatz habe sich mal den Spaß gemacht, über ein Jahr lang schriftlich die Fahnenfolge zu dokumentieren und versucht, darin einen Sinn zu erkennen. Es gibt keinen. Als er den türkischen Halbmond hisste, wurde er gefragt, ob in die ehemalige Villa des Hafendirektors über Nacht die türkische Botschaft eingezogen sei. Mitnichten. Wie der Vorname schon sagt, verehrt Dr. Schindler den Christengott. Er ist aktives Mitglied der evangelischen Kreuzkirche.

Der Protestant flaggt nicht nur für Muslime, sondern auch für Katholiken. Zum Beispiel bei der Fronleichnamsprozession von St. Cäcilia. Die habe aber schon lange nicht mehr stattgefunden, bedauert er. Und seinem Nachbarn, einem pensionierter Oberst der französischen Armee, machte er zu Lebzeiten am französischen Nationalfeiertag eine besondere Freude. Am Morgen des 15. Juli fand Dr. Theophil Schindler in seinem Briefkasten folgendes Dankesschreiben: „Merci pour hisser la tricolore.“

„Für mich ist der 3. Oktober der wichtigste deutsche Feiertag.“Dr. Theophil Schindler

Wetten: Am Samstagmorgen weht Schwarz-Rot-Gold. „Für mich ist der 3. Oktober der wichtigste deutsche Feiertag. Wir haben den Kalten Krieg gewonnen, ohne einen Schuss und ohne einen Tropfen Blut kam die Wiedervereinigung. Das muss man sich wie eine Praline auf der Zunge zergehen lassen“, sagt Dr. Schindler.

Der Chirurg weiß, wovon er spricht: Er ist Oberst der Reserve, Kreisvorsitzender des Volksbunds deutsche Kriegsgräberfürsorge, Autor des Buches Mahnmal der Kriege. In seiner Freizeit steht er mit Wasser und Wurzelbürste an den Kriegsgräbern auf dem Oberen Friedhof. „Warum?“

„Wer macht’s denn sonscht?“, stellt der immer freundliche Sinsheimer die Gegenfrage. Dort in der badenwürttembergischen Niederpfalz, wo die TSG Hoffenheim spielt, ist er geboren und aufgewachsen. Er hat an der Hand des Großvaters am Kriegerdenkmal Namen entziffert und so lesen gelernt.

Was treibt ihn so um. Vielleicht ist es der Verlust. Die Schindlers sind vertriebene Deutsche aus Szopron (Ödenburg), wo sie über 1000 Jahre siedelten. Schindler besucht Friedhöfe auf der ganzen Welt. Dort verfolgt er beiläufig einen besonderen Auftrag: „1200 von 1800 im Ersten Weltkrieg gefallene Schindlers habe ich schon eine Rose ans Grab gelegt“, verriet der Spurensucher der MZ. Der Chirurg hat einen Sinn für Romantik.

Wenn es einen Preis für nutzloses Wissen geben würde, Schindler wäre der erste Anwärter darauf: Der Mediziner hat bis hin zu den Seychellen alle Fahnenkombinationen im Kopf und kann sie auch sofort aufsagen. „Lettland“, sagt er, „hat dieselbe Fahne wie Österreich, nur halt karminrot, also lettischrot.“

Als die lettische Botschafterin im Juni die renovierten Kriegsgräber von elf Letten auf dem evangelischen Zentralfriedhof anschauen kam, fuhr sie Dr. Schindler noch an seinem Haus in der Neufferstraße vorbei, um ihr zu zeigen, wie das lettische Hoheitszeichen über dem Stadtosten flatterte. „Elita Kuzma hat sich sehr gefreut.“

Alle Teile der Serie „Habe die Ehre“ finden Sie hier.