Justiz
Psychiatrie ist keine Einbahnstraße

Der Fall Mollath hat für Entsetzen gesorgt. Dabei müssen selbst schizophrene Straftäter nicht jahrelang weggesperrt werden.

02.08.2015 | Stand 16.09.2023, 7:03 Uhr
Marion Boeselager
Die stellvertretende Leiterin der forensisch-psychiatrischen Klinik am Regensburger Bezirkskrankenhaus, Dr. Kirsten Lange −Foto: Boeselager

„Einmal drin - nie mehr raus.“ Diese Vorstellung vom Maßregelvollzug hat sich spätestens seit dem Fall Gustl Mollath, der sich nach sieben Jahren in der Forensik durch ein Aufsehen erregendes gerichtliches Wiederaufnahmeverfahren wieder in die Freiheit kämpfte, in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. „Vor allem viele Schizophrene haben diese Angst“, sagt Dr Kirsten Lange, stellvertretende Leiterin der forensisch-psychiatrischen Klinik am Regensburger Bezirkskrankenhaus. „Schizophrene, die dringend eine Behandlung bräuchten, aber es aus Furcht nicht wagen, ärztliche Hilfe zu suchen.“ Doch am 9. Juli fiel vor dem Landgericht Regensburg ein Urteil mit Signalwirkung, das vielen psychisch Kranken Mut zur Therapie machen kann: Ein 31-jähriger Regensburger, der an paranoider Schizophrenie erkrankt war, hatte seinen Vater im Wahn mit Brennspiritus übergossen und angezündet. Der 65-jährige Mann überlebte nur knapp. Dem bei der Tat schuldunfähigen Sohn drohte die Einweisung in die Forensik. Doch die Behandlung des jungen Mannes während der vorläufigen Unterbringung im BKH zwischen der Tat im November 2014 und dem Prozess im Juli 2015 schlug so gut an, dass die Wahnvorstellungen verschwanden, so Dr. Lange, die forensisch-psychiatrische Gutachterin in dem Prozess. Der Regensburger wurde als nicht für die Allgemeinheit gefährlich eingestuft und wird nun auf freiwilliger Basis weiter behandelt.

„Das könnte viel öfter passieren“, erläuterte Dr Lange. „wenn sich die Patienten früher behandeln ließen, anstatt den Kopf in den Sand zu stecken.“ Angst hindere psychisch kranke Straftäter nach ihren Worten daran, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen und Behandlung in Anspruch zu nehmen. „Sie sehen sich durch die Unbefristetheit des § 63 der vermeintlichen Willkür der Ärzte ausgesetzt.“ Verständlich - wie die Ärztin meint. „Denn mit dem 63er wurden die Leute früher tatsächlich oft jahrzehntelang hospitalisiert.“

Es geht um Resozialisierung

Doch seit etwa zehn Jahren „vollzieht sich ein Wandel“, so die Psychiaterin. Der Grund: Es wird immer mehr Gewicht auf Resozialisierung gelegt. Seitdem sind eine Vielzahl von sogenannten „komplementären Einrichtungen“ entstanden, die immer mehr erweitert und vervielfältigt werden. Da gibt es etwa vollstationäre Häuser, betreute Wohngemeinschaften, und - die niedrigste Stufe - betreutes Einzelwohnen in der eigenen Wohnung, mit Alltagsbetreuung und -begleitung von psychiatrisch geschulten Sozialpädagogen - So lange, bis der Patient und frühere Straftäter wieder soweit genesen ist, sein Leben selbstständig zu führen. Nach medbo-Pressesprecherin Lissy Höller gibt es derzeit in der Oberpfalz 63 solche Einrichtungen, die vom Bezirk finanziert werden.

„Wenn ein schizophrener Mensch eine Straftat begeht, ist er erstmal akut krank“, erläuterte Dr Lange. Ursache für die Tat sei die „Produktivsymptomatik“: Er leidet an Wahnvorstellungen, hört befehlende oder kommentierende Stimmen, hat Halluzinationen, die ihn fremdsteuern.

„Diese Symptome sind gut zu behandeln und sprechen, gleich nach der Erstmanifestation, sehr gut auf Medikamente an“, betonte die Ärztin und appellierte gleichzeitig an Erkrankte, sich schnell an den allgemeinpsychiatrischen Bereich eines BKH zu wenden, „bevor sie zu Straftätern werden.“

Doch auch wenn dies schon passiert sei, könnte die schizophrene Produktivsymptomatik relativ schnell beseitigt werden - und mit ihnen die Gefährlichkeit des Kranken. „Es sei denn, es kommen noch andere Umstände hinzu, wie Drogensucht, eine dissoziale Persönlichkeit oder eine allgemeine Neigung zu Gewalttaten“, so Dr. Lange.

Patienten nicht allein lassen

Was danach zurückbleibe, sei die sogenannte „Negativsymptomatik“. „Das ist ein Zustand, in dem alle vitalen Kräfte gedämpft sind. Man hat keinen Antrieb, hat Konzentrationsprobleme, nimmt Gefühle nicht mehr mit der früheren Intensität wahr“, so die Ärztin. Dies könne man bei früher Behandlung einer akuten Schizophrenie jedoch in den meisten Fällen deutlich verringern.

Das Problem: „Viele Betroffene führen die Gedämpftheit zu Unrecht auf die Medikamente zurück. Sie setzen die Produkte ab und bekommen einen neuen Schub.“ Ein Teufelskreis: Denn mit jedem Schub fühlt sich der Erkrankte noch schlapper und gedämpfter.

Sehr wichtig sei, die Patienten, deren Schub vorbei ist, nicht allein zu lassen, sondern sie in ein Umfeld zu entlassen, das auf ihre Befindlichkeiten Rücksicht nimmt. „Sie wären im Alltag sonst massiv überfordert und nur wenig belastbar“, so Lange. Selbst kleine Reize könnten so zu einem neuen Schub und womöglich zu einer neuen Straftat führen.

Diese Belastungen können aber durch Unterstützung in einer der Komplementäreinrichtungen abgepuffert werden, bis der Betroffene sich weiter erholt hat und zunehmend belastbar wird. Früher nahmen solche Einrichtungen nur selten oder mit großen Bedenken Straftäter auf, so Dr. Lange. „Das hat sich aber entscheidend gebessert, seit am 1.1. 2009 im Freistaat die forensisch-psychiatrischen Ambulanzen gegründet wurden. „Die Einrichtungen werden bei ihrer Arbeit nicht allein gelassen und haben daher ihre Ängste verloren.“ Sie sind nun eng vernetzt mit der forensisch-psychiatrischen Ambulanz des BKH: So entstand ein komplexes Helfersystem, das schnell eingreifen kann, wenn Krisen auftreten. Seither seien Entlassungen aus der Forensik sehr viel einfacher möglich.

„Wenn ein Patient den Mut hat, sich auf seine Behandlung einzulassen“, schloss Dr Lange, „und er beim Prozess frei von Wahnvorstellung ist, dann fehlt in vielen Fällen die Voraussetzung, die das Gericht veranlasst, eine Unterbringung anzuordnen. Und wenn der Betroffene dann bereit ist, sich in einer komplementären Einrichtung weiter behandeln zu lassen, dann ist die Gefahr, dass Ähnliches nochmal passiert, sehr gering.“