Extremsport
Apnoetauchen: So tief kann man sinken

Jens Stötzner floh aus der DDR, weil er vom Ironman träumte. Mittlerweile taucht der zweifache Junioren-Vizeweltmeister ab.

19.08.2017 | Stand 16.09.2023, 6:16 Uhr

Jens Stötzner beim Training vor der Küste von Honduras Foto: Alex St. Jean

Abends in Deutschland, 20 Uhr, die halbe Republik sitzt auf der Couch und schaut fern. Auch Jens Stötzner tut das ab und an. Was ihn von den anderen Bundesbürgern unterscheidet – Stötzner begann vor sechs Jahren, dabei immer mal wieder die Luft anzuhalten. Nicht nur beim Fernsehen, auch bei anderen passenden und eher unpassenden Gelegenheiten, beispielsweise im Fitnesscenter beim Spinning. „Da geht es vielleicht nicht ganz so lange, denn man kriegt sehr schnell saure Beine. Aber es verkürzt effektiv die Trainingszeit. Denn wer das länger als zweieinhalb Minuten durchhält, fällt vom Rad“, flachst Stötzner.

Stötzner ist 50 Jahre alt, geboren in Berlin und vor einiger Zeit nach Regensburg gezogen. Der Geschäftsführer der Firma Aurelly, einem Unternehmen für Hard- und Softwareentwicklung, das vornehmlich in der Projektunterstützung für Industrieunternehmen tätig ist, hat keinen an der Klatsche; es waren auch nicht aufregende Nachrichten, die ihn animierten, die Luft anzuhalten. Der Wirtschaftsinformatiker trainierte. Stimmritze, Gaumensegel, Atemreizunterdrückung.

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Stötzner ist Apnoe-Taucher, ein Freitaucher, und gehört damit zu den Menschen, die in Meeren, Seen und Pools immer wieder aufs Neue erproben, wie tief ihr Körper sinken kann, wie lange sie mit nur einem Atemzug unter Wasser bleiben können. Das Wort Apnoe leitet sich vom griechischen apnoia ab und wird mit „Windstille“ und „Atemlosigkeit“ übersetzt.

Jens Stötzner kann tief sinken. Kürzlich verbesserte er den deutschen Rekord im österreichischen Achensee um einen Meter auf 54 Meter in der Kategorie ohne Flosse mit konstantem Gewicht – in der Wettkampfsprache abgekürzt CNF, „Constant Weight, no fin“. CNF ist Stötzners Spezialdisziplin.

Es gibt noch weitere Kategorien, mit denen die Taucher in noch tiefere Tiefen vorstoßen. Beim Constant Weight with fin (CWT) darf mit Flossen getaucht werden. Bei Free Immersion (FIM) darf der Taucher die Hände einsetzen und sich an einem Seil in die Zieltiefe runter- und wieder raufhangeln. Außerdem gibt es Pooldisziplinen im Zeit- und im Streckentauchen.

29 Grad warmes Wasser, tiefblau

An diesem Wochenende beginnt auf der Insel Roatan vor der Küste Honduras die Apnoe-Weltmeisterschaft. Stötzner flog bereits vor einigen Tagen hin. Außer ihm tauchen für Deutschland vier weitere Mitglieder der Nationalmannschaft, drei Frauen und noch ein Mann. 90 Freitaucher aus 28 Nationen nehmen an der WM teil, Stötzner wird in den Kategorien CWT, CNF und Free Immersion an den Start gehen. „Die Bedingungen sind hervorragend“, sagt er. 32 Grad Außentemperatur, 29 Grad Wassertemperatur, tiefblaues Meer. Stötzner genügt ein ein Millimeter dünner Neoprenanzug. Ab und an störten Strömungen einige Tauchgänge – aber sonst, „alles toll“. Von einer Medaille mag er nicht sprechen.

„Ziel ist es, Grenzen zu verschieben.“Jens Stötzner

„Ziel ist es, die eigene Leistung zu verbessern, Grenzen zu verschieben, den Druckausgleich sauber hinzubekommen, damit man entspannt abtauchen kann. Ein deutscher Rekord wäre natürlich schön“, fügt Stötzner hinzu. Bei der letzten Individual-WM auf Zypern war er Gesamt-Vierter geworden. Vor zwei Jahren verbesserte er auf Zypern den deutschen Rekord im Meer auf 66 Meter (CNF).

Taucht Stötzner ab, schließt er die Augen. Er kann sich besser konzentrieren, auf seine innere Wahrnehmung hören. Im Bruststil geht es nach unten. Damit er nicht abdriftet, ist Stötzner mit einer Lanyard am Führungsseil gesichert. Ab einer gewissen Tiefe – etwa 25 Meter – sinken Taucher von selbst; „free fall“ nennen sie das in der Szene. „Dann konzentriere ich mich darauf, möglichst stromlinienförmig in die Tiefe zu fallen, bis es anfängt zu piepsen.“ Drei, vier Meter vor der Grundplatte wird der Taucher alarmiert, öffnet die Augen, holt sich eines der unten deponierten Kärtchen, die beweisen, dass er die Zieltiefe erreicht hat.

Der Kampf mit dem Atemreiz

Eine der Schwierigkeiten beim Freitauchen besteht darin, den Atemreiz zu überwinden. „Wenn man den Atem anhält, bildet sich CO2, das man nicht ausleitet. Um dem Körper zu signalisieren, dass man jetzt nicht atmen möchte und dass das auch nicht schlimm ist, muss man sehr entspannt sein und kopfmäßig stark, denn der Atemreiz kann richtig fies werden “, sagt Stötzner.

Die andere Herausforderung ist der Druckausgleich. „Richtig schwierig wird es ab einer Tiefe von etwa 25 bis 30 Metern“, sagt Stötzner. Dann gerät die Lunge des Tauchers in Unterdruck. Mit einer bestimmten Technik wird vorher noch Luft in den Nasen-Rachen-Raum gebracht, um dann in weiteren Tiefen den Druckausgleich im Mittelohr zu realisieren. Gelingt das nicht, muss man wieder umdrehen. „Das ist der oft limitierende Faktor beim Tauchen.“

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Hat Stötzner die Zieltiefe erreicht, beginnt der Kampf um den Aufstieg, zumindest in der CNF-Disziplin, in der die Führungsleine nur zur Wende berührt werden darf und man aus eigener Kraft wieder nach oben schwimmen muss. „Man kommt dort unten nicht wirklich gut voran, vielleicht erstmal einen halben Meter pro Schwimmzug“, sagt Stötzner.

Es ist wohl der Zweiklang, der Stötzner am Freitauchen so fasziniert: Nicht nur der Körper auch die Psyche muss trainiert werden . Das physische Training ist wichtig, um die Laktattoleranz auszubauen, das psychische Training, um sich zu entspannen.

„Denken verbraucht Sauerstoff.“Jens Stötzner

Jede Anspannung verbraucht Sauerstoff. „Denken verbraucht Sauerstoff, der Idealfall ist an nichts zu denken.“ Das ist gar nicht so einfach. Ist der Alltag überfrachtet, kreist abends der Kopf. Stötzner nutzt eine Selbst-Hypnosetechnik – aber auch die muss man trainieren. Und manchmal ist es geboten, dem Körper gut zuzureden. „Denn wenn der Atemreiz kommt, ist auch der Tauchreflex intensiver, dann redet man sich das schön und sagt: , Toll, okay, ich spare ein bisschen Sauerstoff, auch wenn man vielleicht an einem Punkt angelangt ist, der nicht mehr schön ist.’“

Für Stötzner ist „Freitauchen eine sehr mentale Sache, ideal für jemanden der einen stressigen Beruf hat und runterkommen will“. Auch in seinem Leben gab es Berufsjahre, die sehr fordernd waren, ihm mehr abverlangten als für den Körper noch gesund war; unzählige Wochen die wenig Pausen und keine Wochenenden mehr kannten. Da war Freitauchen ideal. Und was Stötzner gut gefiel – dass man sich auch noch im „hohen“ Sportalter von über 40 gut entwickeln kann.

Von der DDR nach Hawaii

Denn Stötzner ist die Jahre davor nicht nur auf der Couch gelegen und hat ferngesehen. Sportlich war der Ostberliner schon früher. Nur, dass er sich in der DDR einen Sport ausgesucht hatte, dem die SED-Führung mehr als kritisch gegenüberstand: Triathlon im Osten damals als Ausdauerdreikampf bezeichnet. „Man wurde eher behindert. Förderung gab es keine, vor allem weil Triathlon als kapitalistische westliche Sportart galt und auch, weil sie nicht olympisch war“, sagt Stötzner. Deswegen durfte er auch nicht ins Ausland reisen, sondern nur in die sozialistischen Bruderländer, um dort an Wettkämpfen teilnehmen. Doch er träumte davon, irgendwann auch mal auf Hawaii zu starten, zumal er mit 22 Jahren die DDR-Bestenliste – eine Meisterschaft gab es nicht – anführte.

Der Traum wurde so mächtig, dass er damals mit einem Freund 1989, kurz vor der Grenzöffnung, floh. Sie gaben vor, an einem Wettkampf in Budapest teilnehmen zu wollen, nahmen Rad und Sportdress mit.

Nach einigen Wochen des Wartens durften sie dann im August wie viele andere tausende DDR-Bürger, die über Ungarn ausreisen wollten, nach Westdeutschland rüber. Gekannt hatte Stötzner zu diesem Zeitpunkt niemanden in der BRD, ein Ziel hatte er trotzdem. Nürnberg, „denn Roth – das Triathlon-Mekka – lag ja gleich daneben“, sagt er.

Glückliche Umstände – ein ehemaliger Datev-Manager nahm sich des jungen Elektromechanikers an und Stötzners unbändige Zielstrebigkeit – waren die Grundlagen dafür, dass er sich seinen Traum vom Ironman erfüllen konnte. 1990 und 1991 wurde er auf Hawaii Junioren-Vizeweltmeister und später für einige Jahre sogar Profi.

Ziemlich unwahrscheinlich für einen, der bei seinem ersten Ironman in der DDR das Schwimmen noch im Bruststil absolvierte.

Doch Grenzen verschieben, auszuloten, was möglich ist, das gefällt Jens Stötzner. Vielleicht gelingt es ihm bei der WM auf Roatan erneut.

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