Porträt
Der Fußballer mit Ecken und Kanten

Klaus Augenthaler schafft sich Inseln: Wenn sich der Fußball-Weltmeister nach Ruhe sehnt, dann fährt er an einen Fluss.

29.06.2016 | Stand 16.09.2023, 6:52 Uhr

„Früher waren die Klubs Vereine, heute sind sie Firmen“, sagt Klaus Augenthaler. Foto: dpa

Wenn sich Klaus Augenthaler nach Ruhe sehnt, steigt er in sein Auto, fährt an einen Fluss und wirft die Angel aus. Dann wartet er, stundenlang, manchmal die ganze Nacht. Meistens ist er allein. Beim Angeln fühlt er sich frei, sagt Augenthaler. Er genießt „die Ruhe der Natur“. Früher, als er Klubs wie Leverkusen oder Wolfsburg trainierte, verarbeitete er in diesen stillen Stunden Niederlagen, die ihm zuhause nicht aus dem Kopf gingen. Ein Fisch schert sich nicht um Stellungsfehler oder gescheiterte Abseitsfallen. Ein Fisch beißt oder er beißt nicht. Nur verschrecken darf man ihn nicht. Augenthaler ist an einem Fluss aufgewachsen, neben zwei Berufsfischern. Das Hobby hat ihn durchs Leben begleitet. „Man kommt einfach nie ganz los“, sagt Augenthaler, „das ist wie mit dem Fußball.“

Das Spiel mit dem Ball ist in diesen Tagen der Europameisterschaft omnipräsent, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen. Dem Hype entkommt man nicht. Die Deutschen lieben das Spiel. Fußball ist König, oder – für andere Sportarten – ein Tyrann. Als der junge Boris Becker 1985 erstmals Wimbledon gewann, sahen elf Millionen Menschen zu. Längst hat sich nicht nur der Tennisspieler Becker verabschiedet, sondern auch Wimbledon aus dem Programm der öffentlich-rechtlichen Sender. Christian Spiller schrieb vor einem Jahr bei Zeit online: „Deutschlands Sport wird zu einer Monokultur. Fußball ist so dominant wie nie zuvor.“

Die Verpflichtung als Trainer schlug in Donaustauf hohe Wellen

Das muss man nicht gut finden, aber es hilft zu verstehen, warum es so eine große Sache ist, dass Klaus Augenthaler als Trainer beim Sechstligisten SV Donaustauf angeheuert hat. Augenthaler war sieben Mal Deutscher Meister und gewann 1990 die Weltmeisterschaft. So jemand bewegt die Menschen. In Donaustauf haben die Verantwortlichen den Rummel gewiss einkalkuliert, als sie im Februar ihren prominenten Trainer vorstellten. Der Andrang auf der Pressekonferenz war so groß, dass Augenthaler milde überrascht meinte: „Ich habe nicht geglaubt, dass so ein Hype ausgelöst wird.“

Ein Treffen mit Klaus Augenthaler vor einigen Wochen. Er sitzt in Donaustauf auf der Terrasse der Praxis von Klaus Eder, dem Physiotherapeuten der Nationalmannschaft. 58 Jahre ist er mittlerweile, die Furchen im Gesicht sind tiefer als auf den Bildern von früher. Die Haare, die einst eine herrliche Vokuhila-Frisur formten, sind kürzer und ergraut. Anfang des Jahres hat Augenthaler eine neue Hüfte bekommen. Nun will er schnell fit werden, damit er im Training mitmischen kann. Man kommt ja nie ganz los vom Fußball.

Das Prinzip des Spiels ist einfach, vielleicht liegt darin die Faszination. „Das Runde muss in das Eckige“, wusste schon der unvergessene Sepp Herberger. Das galt im Jahr 1964, als der junge Klaus Augenthaler beim FC Vilshofen zum ersten Mal gegen den Ball trat. Es gilt, wenn der 58-Jährige in Donaustauf an der Seitenlinie steht. Abgesehen davon hat sich die Fußballwelt grundlegend gewandelt. Augenthaler hat den Wandel miterlebt.

Als 18-Jähriger verließ Augenthaler das kleine Vilshofen. Zu der Zeit hatten „16-Jährige noch keinen Berater“ und „18-Jährige unterschrieben keine Verträge, mit denen sie praktisch ausgesorgt haben“. Scouts, die hauptberuflich Talente beobachten, gab es nicht. Heutzutage haben manche Talentspäher bereits Kinder auf dem Zettel. 2011 sorgte Manchester United für Aufsehen, als es Charlie Jackson verpflichtete – einen Fünfjährigen. Augenthaler erzählt: „Wir fielen damals auf, weil wir mit dem kleinen Vilshofen Jugendmeister wurden.“ Die Bayern luden Augenthaler zum Probetraining ein. Er überzeugte.

Augenthaler versteht auch Spaß: Gemeinsam mit Hape Kerkeling veralberte er österreichische Journalisten, als er Ende der 1990er den Grazer AK trainierte:

Unter Trainer Dettmar Cramer debütierte Augenthaler am 12. Oktober 1977 in der Bundesliga gegen Dortmund. Der väterliche Cramer achtete sorgfältig auf seinen jungen Profi, „er passte auf alles auf, ob das Hemd in der Hose steckt, ob die Frisur sitzt“. Auf Cramer folgte Guyala Lorant, ein Ungar. Er scherte sich nicht um Hemden und Frisuren, aber er beförderte Augenthaler zum Stammspieler.

Augenthaler, der Libero, stieg zur Identifikationsfigur auf. Ein Bayer für Bayern. Dass ihm das Weißbier schmeckt, passte ins Bild. Da war es auch kein Problem, dass der heimische Dialekt rasch aus seiner erdigen Stimme verschwand. Dem Onlinemagazin da Hog`n sagte er: „Ich wurde immer wieder angemotzt, von Spielern, die nicht aus Bayern kommen. Sie sagten, dass sie mich nicht verstehen.“ Aber Augenthaler wollte verstanden werden.

Das klappte nicht immer. Als Trainer des abstiegsbedrohten VfL Wolfsburg gab Augenthaler vor dem 33. Spieltag eine berühmte Pressekonferenz. Fragen der Journalisten waren nicht zugelassen. Augenthaler befragte und antwortete sich selbst. Vier Fragen. 42 Sekunden dauerte der Monolog. Viele hielten das für einen Witz. Augenthaler hingegen: „Das war nicht aus Jux und Tollerei. Uns fehlte ein Punkt. Ich wollte auf keinen Fall absteigen. Das sollte die Mannschaft aufrütteln.“ Sein Team quälte sich in Aachen zu einem 2:2. Wolfsburg blieb in der Bundesliga, Augenthaler musste gehen. Das Trainerdasein ist „schnelllebig“. Augenthaler wollte eigentlich nie Trainer sein, weil diese ständig umziehen müssen. Er schätzt Beständigkeit.

Legendär ist Klaus Augenthalers Pressekonferenz aus dem Jahr 2007: Augenthaler trainierte damals den VfL Wolfsburg, der Verein stand vor dem entscheidenden Spiel um den Klassenerhalt.

Vereinstreue ist inzwischen selten geworden

17 Jahre lang hat Augenthaler das Trikot des FC Bayern getragen. 404 Bundesligaspiele, 52 Tore, fünf weitere Jahre als Jugend- und Co-Trainer. Bis die Hüfte vor zwei Jahren streikte, spielte er bei den Bayern-Altstars. Vereinstreue ist selten geworden, oder sie wird anders interpretiert: „Mich stört, dass ein Spieler, wenn er sechs Monate für einen Verein spielt und ein Tor schießt, gleich das Vereinswapperl küsst“, sagte Augenthaler im da Hog`n-Interview. Er hat keine Wappen geküsst, Identifikation war normal: „Es gab fünf, sechs Spieler, die ewig bei einem Verein spielten. Man verband Spieler mit Vereinen.“ Pierre Littbarski mit Köln, Gerd Müller mit Bayern. Lange sah es so aus, als könnte Bastian Schweinsteiger eine bayerische Ikone werden. Schweinsteiger, aus Kolbermoor im Alpenvorland, hat auch 17 Jahre lang für Bayern gespielt und das Credo „Mia san Mia“ auf angenehm bescheidene Art gelebt. Die Fans nannten ihn „Fußballgott“. Vor einem Jahr fand sich für Schweinsteiger kein Platz mehr im Luxuskader. Er wurde nach Manchester verkauft.

Hier finden Sie ein Video vom Trainingseinstand Klaus Augenthalers beim SV Donaustauf:

Natürlich raunten die Anhänger, ob man nicht gerade ein Stück Vereins-Identität verloren habe. Doch die Münchner spielten eine ausgezeichnete Hinrunde, der große Aufschrei blieb aus. Der „Fußballgott“ war bald vergessen. „Das Geschäft ist so schnelllebig geworden“, sagt Augenthaler, „es zählt nur der Erfolg“. Wo einmal Herz war, stehen jetzt Zahlen. Erfolg wird in Toren, Punkten, und in erster Linie in Geld gemessen. „Früher waren die Klubs Vereine, heute sind sie Firmen.“ Im Internet findet man dieses Video. Es zeigt Augenthaler in den Minuten nach seinem Abschiedsspiel 1992: Wie ein siegreicher Feldherr steht er auf dem Heck eines weißen Geländewagens von Opel. Augenthaler oberkörperfrei, eine Zigarette in der Hand, ein leerer Weizenstutzen in der Nähe. Ein umjubeltes Klischee. Manchen Eltern missfällt das, sie schreiben ihm Briefe. Ein Fehler wäre das damals gewesen, meint er rückblickend. „Aber ich war authentisch. Jeder wusste, dass ich geraucht habe. Das war damals normal.“

Von den Zigaretten kann er nicht lassen

Wie so vieles im Fußball, haben sich auch die Spieler geändert. „Die Zeiten, in denen wie damals im Massageraum geraucht wurde oder es Weißbier gab, sind vorbei“, sagte Klaus Eder einmal in einem Interview. „Nur Jogi Löw zieht ab und zu mal an einer Zigarette.“ Als Spieler versuchte Augenthaler ein paar Mal aufzuhören, hielt aber nur ein paar Tage durch. Er hat für E-Zigaretten geworben und sagt mittlerweile: „Ich rauche weniger.“

Von manchen Dingen kommt man einfach nie ganz los.

Der Text ist eine Leseprobe aus der Sonntagszeitung, die die Mittelbayerische am Wochenende erstmals exklusiv für ePaper-Kunden auf den Markt gebracht hat. Ein Angebot für ein Testabo der Sonntagszeitung finden Siein unserem Aboshop.

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