Wissenschaft
Blaue Pillen helfen super

Gesundheit spielt sich auch im Kopf ab. Glaube kann eine gute Medizin sein. Der Placebo-Effekt ist der beste Beweis dafür.

24.12.2016 | Stand 16.09.2023, 6:34 Uhr

Die Farbe von Dragees ist doch eigentlich unerheblich. Denkste! Bei Schlafstörungen helfen blaue Pillen besser als schwarze oder weiße Foto: dpa

Der Glaube kann Berge versetzen? Meistens sind es doch Bagger und Dynamit. Der Glaube kann Medikamente ersetzen? Das hingegen bestätigt die seriöse Forschung unbedingt. Der Schlüsselbegriff heißt Placebo („ich werde gefallen“), stammt aus der christlichen Liturgie in der Übersetzung von Kirchenvater Hieronymus.

Hinter dem Placebo-Effekt steckt die vielleicht stärkste Macht überhaupt: die Kraft des positiven Denkens. Erwartungshaltung, Vertrauen in den Arzt und Konditionierung verbünden sich zum Heilmittel. Das ist nicht nur tröstlich, sondern beweisbar in randomisierten Doppelblind-Studien, also in Untersuchungsreihen mit zufällig ausgewählten Probanden. Weder Testperson noch Arzt wissen, wer ein sogenanntes Verum und wer ein Fake-Präparat erhält.

Tagtäglich werden Menschen gesund durch Pillen, die gar nicht helfen dürften. Dragees, die nur aus Mehl und etwas Zucker bestehen, lindern Kopfweh, Rheuma, Magenschmerzen oder Asthma. Häufig zitiert wird eine Studie, in der Asthmatiker glaubten, hilfreiche Medizin einzunehmen. In Wirklichkeit schluckten sie ein Mittel, das die Bronchien verengt. Es hätte ihnen also sogar schlechter gehen müssen. Tatsächlich nahm das gemessene Lungenvolumen aber zu.

Der Glaube kann eine gute Medizin sein. Professor Wolfgang Wieland, Regensburger Urologe, kennt pflanzliche Mittel, die bei gutartiger Prostatavergrößerung wundersam wirken, obwohl sie so unnütz sind, dass keine Krankenkasse sie bezahlt. „Viele Menschen wünschen sich eine Arznei“, sagt Wieland. Ärzte verschreiben Placebos wie als Fetisch, der den Glauben an Vitalität transportiert. „Ob es wirkt, müssen wir sehen. Es schadet sicher nicht“, sagen Mediziner gern beim Überreichen des Rezepts. Im Sinn von „Schönreden“ wurde das Wort Placebo in der Renaissance verwendet.

Materie folgt Geist: Placebos bei Potenz-Problemen

Das Scheinpräparat ist eine Art legitimierter Lüge innerhalb standesrechtlich gesetzter Grenzen. Was dann doch verblüfft: Selbst bei Kranken, die über den Scheineffekt aufgeklärt wurden, besserten sich Symptome nachweislich. Offenbar hatten die Patienten Selbstheilungskräfte aktiviert.

Ob es wirkt, müssen wir sehen. Es schadet sicher nicht.

Materie folgt Geist. Das gilt auffallend auf dem Feld von Potenz-Problemen. Präparate ohne Wirkkraft, tun dann doch ihr Werk – eine Art Nashornpulver des 21. Jahrhunderts. Die Liebe, um den romantischen Begriff zu verwenden, ist eine Himmelsmacht. Was positives Denken vermag, zeigt der Fall eines Mannes, dem der Chirurg nach einer radikalen Prostata-Entfernung nur schwache Hoffnung auf zufriedenstellende Erektionen machen konnte. Dennoch gelangen dem Operierten noch beachtliche Ergebnisse. Die medizinisch kaum erklärbaren Leistungen wurden in der Klinik auf die neue Partnerin des Patienten zurückgeführt und ließen einen Arzt angeblich seufzen: „Mein Gott, wenn wir so eine Freundin doch auf Krankenschein verschreiben könnten!“

Die Farbe von Dragees ist doch unerheblich. Denkste!

Gesundheit spielt sich eben auch im Kopf ab. Und: Sie knüpft sich an Zuschreibungen. Die Farbe von Dragees zum Beispiel ist unerheblich? Denkste! Bei Schlafstörungen helfen blaue Pillen besser als schwarze oder weiße. Große Tabletten wirken stärker als kleine, teure mehr als günstige. „Der unglaublich tolle Effekt: Während klassische Schlafmittel abhängig machen können, bleibt das Placebo ohne Nebenwirkung“, sagt der Regensburger Professor Helmfried Klein, Facharzt für Neurologie, Psychosomatische Medizin und Psychiatrie.

Der Placebo-Effekt ist Teil jedes Behandlungserfolgs. Zuwendung, die positive Überzeugung, die der Mediziner vermittelt, und umgekehrt das Vertrauen in ärztliche Kompetenz sind Gold wert. Für diesen Zusammenhang gibt es sogar einen eigenen Begriff: den Curabo-Effekt („ich werde heilen“).

Worte wirken. „Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“, sagt die Bibel. Worte können kränken. Dann hilft nicht nur Zuspruch, sondern gezielte Medikatation. Helmfried Klein sagt es so: Die Krankheit der Seele, ist – wie jede andere – psychosomatisch, also: körperlich und psychisch. „Und deshalb auch von beiden Seiten beeinflussbar.“ Die Verflechtungen sind schön in bildgebenden Verfahren zu sehen. In der Röhre, beim MRT, zeigen sich die „Stimmen“, die ein Schizophrenie-Patient hört, als leuchtende Pünktchen im Gehirn. Aber auch auf eine simple Rechenaufgabe reagiert der Körper.

Keiner zweifelt am – wie immer gearteten – Effekt von Operationen. Aber auch, was nur nach handfester Intervention aussieht, kann hervorragend wirken. Fast legendär ist die Studie, bei der man Patienten zum Schein akupunktierte (die Nadel rutschte beim Aufsetzen in die Halterung zurück, ein bisschen wie die Schwerter im Theater). Der winzige Piek beruhigte Reizdarm-Beschwerden, am besten verbunden mit gutem Zureden. Vorgetäuschte OPs, die nur aus einem oberflächlichen Schnitt bestanden, linderten sogar Arthrose-Schmerzen: Bei einem Test waren fast alle Patienten Jahre später noch zufrieden – egal, ob sie echt operiert oder nur geritzt wurden.

Placebo wirkt auch umgekehrt – dann heißt es Nocebo

Positive Erwartung lässt sich lernen – auch von Tieren. Herztransplantierte Ratten erhielten ein Immunsuppressivum in Süßstoff-Lösung. Die Wirkung hielt an, obwohl die Tiere nach drei Tagen nur noch das süße Wasser bekamen. Ähnlich reagierten Menschen, die eine Woche lang in einem grünen Getränk mit Lavendelduft und Erdbeeraroma Medizin einnahmen. Die Arznei wirkte auch in Woche zwei, obwohl sie im Drink gar nicht mehr enthalten war.

Innere Überzeugung schlägt körperlich durch – auch negativ. Der Nocebo-Effekt wurde in vielen Studien belegt. Ein Beispiel ist eine Testgruppe, die über gravierende Nebenwirkungen klagte, obwohl sie wirkstofffreie Placebos geschluckt hatte. Kein Wunder, wenn Ärzte warnen: „Lesen Sie den Beipackzettel besser nicht.“

Was man erwartet, könnte man auch bekommen. Unwillkürlich fällt einem Konzeptkünstlerin Jenny Holzer ein. Sie formulierte in einem ihrer Truisms, ihrer Aphorismen: „Protect me from what I want“, beschütz‘ mich vor meinen Wünschen. Hypochonder dürften den Satz unterschreiben. Ein berühmter Fall ist der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. Er ließ sich sogar einen Gehirntumor operieren. Die OP war echt, der Tumor nicht.

Kein Tee, kein Küsschen, keine Medizin – nur stinklangweilige Stunden im Bett: MZ-Kulturchefin Marianne Sperb wurde konditioniert in einer Familie, die Krankheit nicht belohnte. Sie ist gesund wie ein Pferd. Leider lebt sie nicht so gesund.

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