Transgender
Im Körper so und im Kopf ganz anders

Transidentität ist bei Kindern schwer zu diagnostizieren. Dabei wäre eine frühe Hilfe gut, denn die Pubertät schafft Fakten.

22.09.2017 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr

Transsexualität, Transgender, Transidentität, Geschlechtsidentitätsstörung, Geschlechtsdysphorie – schon bei den Bezeichnungen scheiden sich die Geister. Foto: simoneminth/Fotolia

Transidentität ist in vieler Hinsicht ein schwieriges Thema. Am schwierigsten freilich für einen Menschen, der sich weiblich fühlt, dem die Natur aber ein männliches Geschlecht – oder umgekehrt – zugeteilt hat. Es beginnt schon damit, dem Zustand einen Namen zu geben: „Transsexualität“ passt nicht, da dieser Begriff, zumindest im Deutschen, den Sex in den Mittelpunkt stellt, obwohl es um keine sexuellen Handlungen geht. Gegen „Transgender“ spricht, dass er zu soziologisch ist und gegen „Transidentität“ könnte man einwenden, dass nicht die Identität „trans“ ist, sondern körperliche Merkmale anders als das Bewusstsein ausgeprägt wurden. Bei „Geschlechtsidentitätsstörung“ irritiert der diskriminierende Unterton von „Störung“, der im Begriff „Geschlechtsdysphorie“ lediglich mit einem Fremdwort kaschiert ist.

„Es ist ein Minenfeld, das zudem ideologisch aufgeladen ist“, sagt Alexander Korte. Der Facharzt für Kinder- und Jugendpsychotherapie favorisiert derzeit den Begriff „Körper-Geschlechts-Inkongruenz“, denn er sei wertfrei und präzise. Michael Bastian verwendet „Transidentität“. Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut findet, „das Problem geht tief an die Identität. Es handelt sich um eine tiefe innere Gewissheit – daher passt der Begriff.“

Besseres Problembewusstsein

Dass ein Junge mal vorübergehend gern ein Mädchen wäre oder umgekehrt, komme relativ oft vor, sagt Bastian. „Aber dass Kinder über Jahre sicher behaupten, ‚ich bin kein Junge/kein Mädchen‘, sei eher selten. Das sind Ausnahmekinder.“ Alexander Korte betont: „Bisher selten. Es sind deutlich unter einem Prozent. Wir sehen aber nur die Spitze.“ Fakt sei, es stellen sich mehr Kinder in den Behandlungszentren vor, und der Anteil der biologischen Mädchen wächst dabei. Besseres Problembewusstsein, neue Behandlungsmethoden, aber auch den Machbarkeitsgedanken zählt Korte zu den Gründen – und er weiß, dass er damit aneckt: „Leider entspricht der Genderdiskurs gerade dem Zeitgeist.“

„Wer bin ich in meinen sexuellen Phantasien: Junge oder Mädchen? Das ist ein entscheidender Faktor“Michael Bastian

Die nächste Schwierigkeit liegt in der Diagnose. „Ich werde nie wissen können, ob eine Transidentität vorliegt. Es kommt darauf an, wie stark mich jemand überzeugt“, sagt Michael Bastian. Durch fachliche Begleitung und Alltagstherapie – Freunde einweihen, im anderen Geschlecht leben – komme man der Sache langsam näher. „Es ist eine Prozessdiagnose, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen kann“, sagt Alexander Korte.

Doch die Zeit drängt, wenn die Pubertät vor der Tür steht. Hormone, sogenannte Pubertätsblocker, können sie hinauszögern. Doch während die Pubertät einerseits irreversible Fakten der Vermännlichung und Verweiblichung schafft, bringt sie auch mehr Klarheit für die Diagnose. „Wer bin ich in meinen sexuellen Phantasien: Junge oder Mädchen? Das ist ein entscheidender Faktor“, sagt Michael Bastian. Die Hormone stoppen allerdings auch diese Phantasien.

Für oder gegen Pubertätsblocker?

„Nicht wenige Betroffene söhnen sich während der Pubertät mit ihrem Geschlecht aus“, weiß Alexander Korte aus entsprechenden Studien. Viele hätten dabei ihr homosexuelles Coming-out. Aber nahezu 100 Prozent derjenigen, die Pubertätsblocker nehmen, entscheiden sich danach auch gegen ihr biologisches Geschlecht – „das stimmt mich nachdenklich“.

„Einmal auf ein Gleis gesetzt, lässt sich der Zug anscheinend nicht mehr aufhalten.“Alexander Korte

Korte steht der künstlich generierten Verschnaufpause daher kritisch gegenüber. „Ich nehme in dieser Hinsicht eine Außenseiterposition ein“, gibt er zu. Als Therapeut sieht er sich in einem moralisch-ethischen Dilemma: „Einmal auf ein Gleis gesetzt, lässt sich der Zug anscheinend nicht mehr aufhalten. Aber man richtet auch Schaden an, wenn man die Behandlung verweigert.“

Michael Bastian beginnt einen Fall immer mit dem Wunsch: „Ich hoffe, es ist nicht so – das ist meine innere Haltung. Wir folgen dem Kind, wachsam und ehrlich. Wir unterstützen, aber greifen nicht ein.“ Doch wenn ein Kind in der Therapie plötzlich „heller, strahlender, leuchtender“ wirkt, dann ist er sich ziemlich sicher, dass der Weg stimmt.

Vom ersten Taschengeld kauft sich Rebecca Mädchenkleidung: zwei T-Shirts, ein Rock, Schuhe. Es fühlt sich gut an, ihr Geheimnis in Pink. Niemand darf etwas wissen. Denn Rebecca, heute 31, ist damals äußerlich noch ein Junge. Bei Martin (26) ist es umgekehrt – er wächst als Mädchen auf und fühlt sich im Kommunionkleid verkleidet.In unserer „nr. sieben“-Geschichte erzählen die beiden Regensburger von sich.

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