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„Bitte nicht den Jäger grüßen“

Unterwegs mit Gerhard Schmid: Als Jäger weiß er, wie der Hase läuft. Im Wald sucht der Naturmensch vor allem die Ruhe, Trophäen braucht er nicht.

30.10.2013 | Stand 16.09.2023, 7:20 Uhr

Gerhard Schmid auf dem Weg zum „Sitzen“. Foto: Lex

Auf dieser Kanzel wird nicht gepredigt. Im Gegenteil. Es ist mucksmäuschenstill. In der heraufziehenden Dämmerung ist nur das Knistern welker Blätter zu hören. Gerhard Schmid sitzt in einem kleinen Holzverschlag drei Meter über der Erde und wartet. Ein Reh wäre jetzt recht. Der Wind steht günstig. Die Klappluke in der Wand gibt den Blick frei auf eine kleine Lichtung, nur einen Steinwurf entfernt. Äpfel und Getreidekörner liegen dort auf dem Boden, „Kirrung“, wie der Jäger sagt, also Futter zum Anlocken. Mit einem großen Fernglas nimmt Schmid den Wald rundherum ins Visier. Wo steckt die Beute?

Geduld und Sitzfleisch gehören zur Grundausrüstung eines Jägers. Warm anziehen sollte er sich auch. Beim Ausharren auf dem Hochsitz greifen sogar hartgesottene Naturburschen zum Sitzkissen. Bewaffnet hat sich Schmid mit einer Bockbüchsflinte. Das ist ein Gewehr, das sowohl mit Schrot als auch mit Kugeln schießen kann. Außerdem hat er noch einen Revolver dabei, zwei Messer, eine Taschenlampe und einen Wildsucher mit Infrarotsensor. „Damit kann man angeschossene Tiere, die weglaufen, in der Dunkelheit leichter finden.“ Jetzt fehlt nur noch sein Jagdschein Nr. 124/2005, der tatsächlich auf grünem Papier gedruckt ist, und die Waffenbesitzkarte. „Beides muss ich als Jäger immer dabei haben“, sagt Schmid. Für die Fahrt ins Revier nordöstlich von Regensburg packt er die Waffen in eine abschließbare Tasche. „Das ist zwar nicht vorgeschrieben, schadet aber nicht.“ Im Kofferraum verstaut er noch schnell eine Wanne mit Eimer, Handschuhen und einem Tragesack. Damit kann er seine Beute später aus dem Wald abtransportieren.

Eine Leiter mit acht Sprossen führt auf den grün gestrichenen Hochsitz hinauf. Durch eine niedrige Eingangstür geht es hinein. Wer jetzt den Kopf nicht einzieht, steht so schnell nicht wieder auf. Gut einen Quadratmeter misst der Verschlag. Platz genug für eine Bank, auf der man zu zweit sitzen kann. Die Wände sind mit grünem Filz verkleidet. Schmid hat die Kanzel - so heißen relativ aufwändige und stabile Hochsitze - selbst gebaut und erst vor kurzem aufgestellt. Geschossen hat er von hier oben allerdings noch nichts. Das soll sich jetzt ändern.

Kein „Bockfieber“

Der 67-Jährige weiß, wie der Hase läuft, auch wenn er beim Jagen ein „Spätberufener“ ist , wie er belustigt erzählt. Der gebürtige Straubinger ist Biochemiker, vor allem aber SPD-Politiker. Von 1979 bis 2004 war er Mitglied des Europäischen Parlaments, fünf Jahre davon Vizepräsident. Als Geheimdienstexperte ist er derzeit ein gefragter Mann, aber lieber horcht er inzwischen in den Wald hinein. Seinen Jagdschein hat Schmid erst im Ruhestand gemacht. Ein Freund brachte ihn auf die Idee. Allerdings war er als Parlamentarier schon Sportschütze, zielte auf Scheiben oder Tontauben. „Da ist absolute Konzentration nötig und man kann alles andere dabei vergessen“, beschreibt er seine damalige Motivation.

Heute, beim Jagen in der Natur, ist das Schießen für Schmid nicht die Hauptsache: „Ich brauche keine Trophäen.“ Vom „Bockfieber“ sei er nicht betroffen, er habe keine Vorliebe für besonderes Gehörn. „Mir ist es egal, welchen Bock ich erwische.“ Auch mit Jägerbrauchtum habe er wenig am Hut, aber er sei tolerant. Er genieße es einfach, in der Natur zu sein und zu beobachten, Vögel zum Beispiel oder Hasen. „Die Ruhe gefällt mir.“ Außerdem sei Jagen eine sinnvolle Sache. So hätten zum Beispiel Rehe kaum mehr natürliche Feinde. Das behindere die Verjüngung des Waldes, weil Rehe frische Triebe von jungen Bäumen abbissen. „Als Jäger ersetzt man Luchs und Bär“, sagt Schmid.

Daher ärgert er sich, wenn wieder einmal die Futterbehältnisse zum Anlocken der Wildtiere beschädigt werden, zum Beispiel bei der Maistrommel für die Wildschweine der Deckel fehlt. „Ich verstehe nicht, warum Leute sich über die Jägerei aufregen, obwohl sie selbst Fleisch essen“, empört sich Schmid. Tiere würden wegen der Adrenalinausschüttung keinen Schmerz empfinden, wenn sie erschossen werden. Vorausgesetzt, der Treffer sitzt. „Ein Fangschuss sollte nicht nötig sein“, räumt er ein, „dann hat man das Tier nicht richtig erwischt“. Aber auch der beste Jäger sei davor nicht gefeit. In so einem Fall müsse die Beute, die irgendwo in ihrem Wundbett liege, gesucht und per Gnadenschuss getötet werden. „Aus Tierschutzgründen“, so Schmidt. Ein schnelles Ende garantiere dagegen ein Treffer in den Brustraum, in die Lunge oder sogar mitten ins Herz, also ein Blattschuss. „Dann rennt ein Reh vielleicht noch zwanzig Meter, bevor es endgültig zusammenbricht.“

Wildschweine im Mondlicht

Gut eineinhalb Stunden verharrt Schmid auf dem Hochsitz, dann ist es zu dunkel. „Nachtzielgeräte sind beim Jagen nicht erlaubt“, erklärt er. Rehe erwische man ohnehin am besten in der Dämmerung. Wildschweine kämen dagegen erst nachts aus der Deckung, „da braucht man dann Mondlicht“. Auf der Lichtung hat sich inzwischen ein Eichelhäher eingefunden und lässt sich das ausgelegte Futter schmecken. Schmid nimmt die Munition aus dem Gewehr. Für heute ist Schluss, auch ohne Beute. „Das ist oft so“, sagt er und wirkt nicht enttäuscht. Im Oktober kämen Rehe meist erst in der Finsternis, im November stünden die Chancen besser. Vorausgesetzt, die Beute wird nicht schon vorher verschreckt. Zum Beispiel von Sportlern, die sich laut unterhalten oder mit ihren Stirnlampen grell leuchten. Vielen Menschen sei gar nicht klar, was sie mit ihrem Verhalten bewirkten, ist Schmid überzeugt. „Bitte auch nicht den Jäger auf dem Hochsitz grüßen“, fügt er noch als ultimative Botschaft hinzu. Dann packt er seine Sachen in den Rucksack und steigt langsam von der Kanzel hinunter. Die Luft riecht frisch, nach Harz und Kiefernnadeln. Heute ist hier kein Blut geflossen. Vielleicht beim nächsten Mal.