Zeitgeschichte
Der vergessene Held aus Obertraubling

Im Mai 1945 bewahrt Wehrmachts-Major Josef Gangl französische Prominente vor ihrer Ermordung und wird dabei selbst getötet.

07.05.2018 | Stand 16.09.2023, 6:17 Uhr
Martin Eich

Josef Gangl, hier als Oberleutnant und Batteriechef, in Russland. Foto: Privatbesitz

Zufälligen Beobachtern bietet sich in den frühen Abendstunden des 4. Mai 1945 im Tiroler Bergland ein ungewohntes Bild: Inmitten einer noch von der Wehrmacht gehaltenen Region fahren auf der Straße von Wörgl nach Itter ein Sherman-Panzer namens „Besotten Jenny“ mit fünf auf dem Heck sitzenden Amerikanern, gefolgt von einem kleinen Mercedes-Lastwagen mit acht und einem Kübelwagen mit zwei deutschen Soldaten. Als er einen Kontrollpunkt der Waffen-SS erreicht, eröffnet der Konvoi das Feuer, bricht durch und windet sich nach dem Dorf weiter den engen Weg zum gleichnamigen Schloss hinauf, wo bereits eine Gruppe älterer, bewaffneter Franzosen wartet. Josef Gangl ist zufrieden: Ein Zwischenziel seiner selbstgesetzten Mission ist erreicht.

Ein fast aussichtsloser Kampf

Es ist eine Rumpf-Einheit, die längst alle schweren Waffen verloren hat und nur noch 30 Soldaten zählt. Gangl wird befohlen, nach Tirol zu verlegen. In Wörgl angekommen, begegnet er als erstes Friederika Mayr, Frau eines örtlichen Unternehmers, die nach seinem Ziel fragt. Gangls Antwort ist 28 vergilbten, eng beschriebenen Seiten aus dem Mai 1945 zu entnehmen, die im Wiener „Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes“ als Akte 20367/6 erhalten geblieben sind: „Am liebsten würde ich heimfahren zu meiner Frau und meinen Kindern. Aber das ist leider momentan nicht möglich.“

Denn er weiß von den Gefahren, die seinen Soldaten und Wörgl drohen. Noch immer gilt Heinrich Himmlers sogenannter „Flaggenbefehl“ – der sämtlichen männlichen Bewohnern eines Hauses, das eine weiße Flagge zeigt, die sofortige Erschießung androht – und fliegende Feldgerichte sowie fanatische SS-Trupps jagen Deserteure und alle, die sich der noch von Adolf Hitler angeordneten Zerstörung der Infrastruktur widersetzen. Gangl verpflichtet die Offiziere seines Abschnitts per Handschlag, diese Befehle zu unterlaufen, und kontaktiert österreichische NS-Gegner. Am 30. April übertragen sie ihm die militärische Leitung des Widerstands.

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Sofort plant Gangl eine gewagte Befreiungsaktion. Das nahegelegene Schloss Itter ist eine Außenstelle des KZ Dachau und dient seit Mai 1943 als Gefängnis der französischen Vorkriegs-Elite. Und deshalb als Kulisse bizarrer Auseinandersetzungen, die manche der insgesamt 18 Insassen pflegen: Der frühere Premierminister Édouard Daladier und sein Nachfolger Paul Reynaud sind ebenso in Abneigung verbunden wie die Generäle Maurice Gamelin und Maxime Weygand, die einander wechselseitig für die Niederlage Frankreichs verantwortlich machen. Der bevorstehende Zusammenbruch des Dritten Reichs nährt unter Wachen und Gefangenen gleichermaßen Ängste, wenn auch unterschiedlich begründet. Als Erster setzt sich Kommandant Sebastian Wimmer ab, gefolgt von seinen Männern. Am Morgen des 4. Mai stellen die überraschten Franzosen fest, dass sie sich selbst überlassen, aber nicht in Sicherheit sind: Immer mehr SS-Truppen sammeln sich um Wörgl und die unfreiwilligen Schlossbewohner fürchten, Zeuge der Vorbereitungen ihrer Ermordung zu werden. Der tschechische Koch, selbst KZ-Häftling, wird mit einem Hilferuf zu Gangl geschickt. Der Major teilt die Befürchtungen und fährt nach Nordosten, stets in der Gefahr, von befreundeten oder feindlichen Einheiten beschossen zu werden. In Kufstein trifft er schließlich auf einen von US-Hauptmann John „Jack“ Lee geführten Voraustrupp. Gangl kann die zunächst ungläubigen Amerikaner überzeugen und gemeinsam brechen sie zum Schloss durch. Vom Bergfried aus beobachten sie, wie sich die SS-Einheiten um Itter formieren und Geschütze in Stellung bringen.

Verzweifelte Gefechte im Schloss

Was die ungleichen Verbündeten nicht ahnen: Sie sind auf sich allein gestellt und werden es viele Stunden bleiben. Hartnäckiger Widerstand verzögert den Vormarsch einer Entsatztruppe aus Kufstein. Eine andere scheitert an Etappen-Offizieren, für die Vorschriften schwerer wiegen als Lagen und Erfordernisse: Nachdem sie mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt hat, befiehlt das Hauptquartier der übergeordneten 103. Division den Rückzug – die gestartete Kolonne war in das Operationsgebiet einer benachbarten US-Division eingedrungen.

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Seine Witwe wurde angefeindet

Die Franzosen verharren trotz des Sieges in gedrückter Stimmung, wie ein kanadischer Journalist, der mit dem Entsatz kam, bemerkt. Bevor sie evakuiert werden, verneigen sie sich geschlossen vor dem toten Gangl. Wenige Stunden später schreibt Daladier in der Sicherheit eines US-Stützpunktes in sein erst 1991 veröffentlichtes, bislang unübersetzt gebliebenes Tagebuch: „Ich bewundere den Edelmut dieses Mannes, dieses Deutschen, für den der Krieg zu Ende war und der sein Leben riskieren wollte, um französische Gefangene zu retten, die seine Feinde waren.“

„Ich bewundere den Edelmut dieses Mannes, dieses Deutschen, für den der Krieg zu Ende war und der sein Leben riskieren wollte, um französische Gefangene zu retten, die seine Feinde waren.“Édouard Daladier

Sie vergessen ihn nicht. In den ersten Nachkriegsjahren werden in Ludwigsburg, wo Gangl in den 1930er-Jahren eine Familie gründete, Vorwürfe gegen den gefallenen Major laut, vielfach erhoben durch ehemalige NS-Mitläufer. Ein Angebot der Franzosen, in deren Besatzungszone überzusiedeln, wo man sie unterstützen könne, lehnt seine Witwe ebenso ab wie Offerten von dankbaren Einwohnern Wörgls, ihr dort ein Haus zu bauen. „Meine Mutter hat sich an Prinzipien orientiert“, sagt Norbert Gangl heute. „Sie war davon überzeugt, jeder Mensch müsse das Leben selbst meistern, es in der eigenen Verantwortung behalten.“

In seiner Geburtsstadt stehen Würdigungen noch immer aus. Eine Antwort von Bürgermeister Rudolf Graß auf die Anfrage nach den Gründen gibt es bislang nicht. Im Ausland wird Gangls hingegen gedacht: In Kanada ist aktuell ein Film in Vorbereitung. Das Grab in Wörgl, wo er am 9. Mai 1945 beigesetzt wurde, gilt inzwischen als „Heldengrab“ und wird vom Schwarzen Kreuz, dem österreichischen Gegenstück zum Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, gepflegt. Und er ist einer der wenigen Deutschen unter den 124 Widerständlern, die auf dem zentralen Befreiungsdenkmal in Innsbruck namentlich erwähnt sind. Diese Ehrungen gelten nicht nur einem selbstlosen Offizier, sondern ebenso dem Sendboten einer Epoche, in der deutsche und amerikanische Soldaten gemeinsam einer anderen Diktatur entgegentraten. Deren Untergang hat sein Sohn als Zeitzeuge erlebt: Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war er als Teil einer Delegation seines Maschinenbauunternehmens in Ost-Berlin. Erst in jener Nacht, im Schatten des Brandenburger Tores, vollendete sich das Vermächtnis Josef Gangls.

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