Geschichte
Mit dem Profiler in Hinterkaifeck

Polizeihauptkommissar Klaus Wiest hat den spektakulären Mordfall unter die Lupe genommen. Und ist auf etwas gestoßen.

19.10.2016 | Stand 16.09.2023, 6:41 Uhr

Der Münchner Polizeihauptkommissar Klaus Wiest beschäftigt sich seit Jahren aus beruflichem und privatem Interesse mit dem Fall Hinterkaifeck. Auf dem Bild zeigt er auf die Stelle, an der einst der Hof stand.

Der alte Mann mit dem schlohweißen Haar füllt die grüne Plastikgießkanne mit Wasser und besprenkelt das frisch angepflanzte Heidekraut. „Was wollen’s denn wissen?“, fragt er. Er ist es gewohnt, dass hier auf dem Friedhof in Waidhofen Fremde auftauchen und Fragen stellen. Eigentlich jeden Tag. Vor dem schwarzen obeliskenhaften Grabstein mit den goldenen Buchstaben, dem einzigen, der über die Friedhofsmauer ragt, stehen sie. Lesen die Namen, die Daten, den Psalm. „Der Herr gedenket als Bluträcher ihrer“ – das beflügelt die Fantasie. In dem Grab liegen die Opfer des rätselhaften Sechsfachmordes von Hinterkaifeck. „Die Zeitzeugen sind ja inzwischen alle gestorben, aber geredet wird trotzdem“, sagt der alte Mann zu Fallanalytiker Klaus Wiest. Wiest ist überzeugt, dass es in der beschaulichen Gegend nahe Schrobenhausen noch Menschen gibt, die so manche Frage beantworten könnten. Und tatsächlich wird ihm der alte Mann an diesem Tag einen interessanten Hinweis geben.

Sehen Sie hier eine 360-Grad-Ansicht vom Grab auf dem Friedhof Waidhofen:

Der Mordfall Hinterkaifeck: der Grabstein (www.mittelbayerische.de / Foto: Isolde Stöcker-Gietl) - Spherical Image - RICOH THETA

Hinterkaifeck ist Bayerns spektakulärster Kriminalfall. Der Austragsbauer Andreas Gruber, seine acht Jahre ältere Frau Cäzilia, deren Tochter und Hoferbin Viktoria Gabriel, die Enkel Cäzilia (7) und Josef (2) sowie die Magd Maria Baumgartner fielen am 31. März 1922 auf dem Einödhof einem brutalen Verbrechen zum Opfer. Sie wurden mit einer Reuthaue erschlagen. Raubmord vermutete die aus München angerückte Polizei, die nach nur wenigen Stunden den Tatort verließ. Es wurden bei der Spurensicherung und auch in den späteren Ermittlungen Fehler gemacht, sagt der Fallanalytiker. Fehler, die dem oder den Tätern in die Hände spielten.Sie nahmen ihr Geheimnis mit ins Grab und machten damit aus dem Mord einen Mythos.

Kontakt mit dem letztem Ermittler

Wiest stammt aus der Gegend um Neuburg an der Donau. In München machte er Polizeikarriere. Sieben Jahre bei der Münchner Mordkommission und 17 Jahre als Profiler für die sogenannte Operative Fallanalyse. Wiest kennt sie fast alle, die großen Tragödien der vergangenen drei Jahrzehnte. Er stand vor dem ermordeten Volksschauspieler Walter Sedlmayr und am Fundort der ermordeten Mareike aus Waldmünchen. Er brütete über den Akten vieler ungeklärter Verbrechen – auch aus der Oberpfalz. Vor einigen Jahren fing er an, sich auf Grundlage moderner Polizeimethoden mit dem Sechsfachmord von Hinterkaifeck auseinanderzusetzen. Dabei traf er auch auf Konrad Müller, den letzten Polizeibeamten der in dem Fall ermittelte. Gemeinsam arbeiteten sie sich 2000 durch die Unterlagen und schon damals war sich Wiest sicher, dass das Motiv in einem persönlichen Konflikt begründet sein muss.

Profiler Klaus Wiest war mit der MZ auf Spurensuche am Tatort des Massenmordes:

Der Fallanalytiker fährt an diesem wolkenverhangenen Dienstag weiter nach Gerenzhausen. Dort wohnte einst eine Stiefschwester von Viktoria Gabriel. Schon seit geraumer Zeit beschäftigt ihn die Frage, warum die Familie, die den Großteil von Hinterkaifeck erbte, die rund 50 Tagwerk samt Hofstelle so schnell und für nur drei Millionen Mark (laut Inflationsrechner rund 40 000 Mark) veräußerte. Es war die Zeit der Geldentwertung, in der man eigentlich kein Land verkaufte. Noch dazu wurde „das Sach“ ausgerechnet der Familie des im Ersten Weltkrieg gefallenen Ehemannes der ermordeten Viktoria Gabriel übergeben. „Diejenigen, die noch was dazu sagen könnten, sind schon lange gestorben“, sagt man ihm im Dorf. Er hört es nicht zum ersten Mal.

„Wenn man einen Mord aufklären will, dann gilt damals wie heute: Man muss mit den Leuten ins Gespräch kommen – und zwar auf Augenhöhe“, sagt Wiest. Schon mehrfach stand er am Grab der Opfer und besuchte den Gedenkstein, der nahe dem 1923 abgerissenen Hof errichtet wurde. Er hat sich durch das Archiv der Rechercheplattform „Hinterkaifeck.net“ gearbeitet und sich dort insbesondere das Personenregister vorgeknöpft. Und jetzt redet er. Mit den Kindern, mit den Enkeln. Die Zeitzeugen sind ja nicht mehr da.

Sehen Sie hier eine 360-Grad-Ansicht vom Gedenkstein an das Verbrechen:

Der Mordfall Hinterkaifeck: der Gedenkstein (www.mittelbayerische.de / Foto: Isolde Stöcker-Gietl) - Spherical Image - RICOH THETA

Aus einem Dorf, ein paar Kilometer von Waidhofen entfernt, stammt Viktoria Gabriels Ehemann. Als sich Wiest auf dem Bauernhof der Nachfahren zu erkennen gibt, ist die Reaktion eisig. „Es geht doch immer nur ums Geld“, schimpft der Mann in seiner Scheune. Reden will er nicht. Nicht mit all den Neugierigen, die sich hier schon rumgetrieben haben und auch nicht mit dem Kommissar aus München. „Das war jetzt sehr interessant“, sagt Wiest und steigt wieder ins Auto. Das Verhältnis zwischen den Hinterkaifeckern und der Familie des gefallenen Karl Gabriel um die mitgebrachte Mitgift muss noch näher beleuchtet werden, sagt der Profiler. Außerdem gibt es da den Streit um das Erbe von Hinterkaifeck.

Die Familie Gabriel hatte auch nach dem sechsfachen Mord versucht, sich als Haupterben durchzusetzen, da die siebenjährige Cäzilia – die Tochter des gefallenen Sohnes – mutmaßlich erst nach einem zweistündigen Todeskampf und somit als letztes Opfer starb. Das Ansinnen wurde damals von der Justiz mit der Begründung abgelehnt, dass das Gesetz bei einer Mordserie von einem „gemeinsamen Untergang“ ausgehe. Wenig später kaufte die Familie den weiteren Erben die Anteile an Hinterkaifeck ab. Aber hängt das womöglich alles mit einem entdeckten Erbschein aus dem Jahr 1915 zusammen, der nach dem Tod des Soldaten auf Viktoria Gabriel und nicht auf ihre bereits geborene Tochter Cäzilia ausgestellt war und nach deren Tod für ungültig erklärt wurde? Wurde hier ein Schriftstück in den Archiven gefunden, für das Menschen morden würden?

„Schwer zu sagen“, sagt Olaf Krämer von der Plattform „Hinterkaifeck.net“. Natürlich könnte es nach dem Tod von Karl Gabriel zwischen der Witwe Viktoria Gabriel und den Eltern und Geschwistern des Gefallenen Streitigkeiten ums Erbe gegeben haben. Geld wäre immer ein starkes Motiv. Doch für Krämer reichen die Hinweise dafür bislang nicht aus. „Aus meiner Sicht hatte der Ortssprecher Lorenz Schlittenbauer, der den Inzest zwischen Andreas Gruber und dessen Tochter Viktoria öffentlich machte und mit Viktoria um die Vaterschaft des zweijährigen Josef stritt, ein mindestens genauso starkes Motiv.“ Und auch ein völlig anderes Szenario schließt Krämer nicht aus. Schließlich gerieten im Laufe der Ermittlungen insgesamt 105 Personen ins Visier der Polizei. In keinem einzigen Fall ließ sich allerdings der Verdacht so weit erhärten, dass ein Gericht hätte urteilen können.

Hier sehen Sie die Orte des Geschehens auf Mittelbayerische Maps:

Im Polizeimuseum in Ingolstadt ist man begeistert, wieviele Menschen sich noch immer für den Fall Hinterkaifeck interessieren.Die Sonderausstellung „Mythos Hinterkaifeck – Auf den Spuren eines Verbrechens“, an der das Internetforum „Hinterkaifeck.net“ maßgeblich mitgearbeitet hat, haben bereits in den ersten Tagen über 3000 Besucher gesehen, sagt Museumsdirektor Dr. Ansgar Reiß. Ein Schauspieler aus der Serie „Rosenheim-Cops“ hat sich im Gästebuch für die „gruseligen und interessanten“ Einblicke bedankt. „Das Verbrechen ist zu einem Bestandteil der volkstümlichen Erzählungen geworden“, damit begründet Reiß die Faszination. Und es taugt sogar zum schaurigen Spektakel: Im Wirtshaus von Waidhofen werden in der kalten JahreszeitDrei-Gänge-Menüs samt Laternenwanderung nach Hinterkaifeckangeboten. Die ersten zehn Termine in diesem Jahr sind schon wieder ausgebucht. Aus ganz Deutschland reisen die Teilnehmer an, um bei Nacht und Nebel an den Ort des Verbrechens zu marschieren und sich ordentlich zu gruseln.

Indizien sprechen für Beziehungstat

In der Ausstellung im Polizeimuseum geht man rein auf Grundlage der noch wenigen verfügbaren Dokumente an den Fall heran. Acht Lösungsansätze werden am Ende präsentiert. Wiest sagt, dass er sechs davon eher ausschließen würde. „Für mich steht Viktoria Gabriel im Mittelpunkt des Geschehens“. Der Fallanalytiker ist überzeugt, dass die Geschehnisse in Hinterkaifeck etwas mit Nähe zu tun haben.

Er folgert dies aus dem Obduktionsbericht, der bei Viktoria Gabriel Würgespuren am Hals aufführt. „Würgen ist immer ein Hinweis auf eine Beziehungstat.“ Ein fremder Täter mache sich auch kaum Mühe mit einem Tatort. Die Leichen der Hinterkaifecker waren aber allesamt zugedeckt – im Stall mit einer Tür und Stroh, im Haus mit Bettzeug und einem Rock. Eine Reaktion, die man in Täterprofilen ebenfalls als ein Indiz für Nähe wertet, als eine Art Wiedergutmachung an den Opfern. Doch es bleibt alles Theorie. „Wer der Mörder von Hinterkaifeck ist, werden wir nicht mehr beweisen können“, sagt Wiest.

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Zurück auf dem Waidhofener Friedhof führt der alte Mann den Profiler zu zwei nicht weit von dem schwarzen Monolith entfernt liegenden Gräbern. Er zeigt er mit dem Finger auf einen fast weißen Grabstein und sagt: „Hier liegt der Lorenz Schlittenbauer, von dem viele glauben, dass er etwas mit Hinterkaifeck zu tun hat. Ich glaube das nicht.“ Dann zeigt er auf das andere Grab. „Aber die, die könnten was wissen.“ Wiest liest den Namen. Es sind die Nachfahren von Familie Gabriel.

Lesen Sie hier ein Interview mit den Machern von Hinterkaifeck.net