WAA
Drei Buchstaben, zwei Lager, ein Wunder

1989 kam das Aus für die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die MZ fragt Experten, wie die WAA die Oberpfalz verändert hätte.

20.05.2014 | Stand 16.09.2023, 7:13 Uhr

Auf diesem Gelände sollte die Wiederaufarbeitungsanlage entstehen. Das Brennelementeeingangslager (der grüne Flachbau) und der Castor-Teststand (grünes Gebäude links) waren bereits fertiggestellt. Heute ist auf dem Gelände der Industriepark Wackersdorf angesiedelt. Derzeit haben dort rund 2000 Menschen ihren Arbeitsplatz.Fotos: MZ-Archiv, ig

Ein sonniger Maitag. Auf der Terrasse im Vier-Sterne-Hotel Birkenhof in Hofenstetten (Lkr. Schwandorf) sitzen die Gäste und wählen aus der Mittagskarte. Spargel mit gebackenen Kalbsfiletscheiben, Carpaccio vom Angusrind mit Trüffelvinaigrette und Blumenkohl-Panna Cotta, danach noch zweierlei Schokoladenmousse mit Mango und Minze. Während sie auf die Speisen warten, schweift der Blick über die sattgrüne Oberpfälzer Landschaft und bleibt am Innovationspark Wackersdorf hängen. Für Nichteinheimische ein Industriegelände ohne Bedeutung, für die Oberpfälzer liegt auf der Anhöhe das „Wunder von Wackersdorf“. Am 31. Mai 1989 – vor 25 Jahren – wurde der Bau der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf begraben. Wie würde die Oberpfalz heute aussehen, wenn die deutschen Energieunternehmen, die sich damals in der Gesellschaft für Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (DWK) zusammenschlossen, die nukleare Anlage tatsächlich fertiggestellt und in Betrieb genommen hätten?

Heute boomt der Tourismus

„Wer würde schon in einer Gegend Urlaub machen, in der eine Wiederaufarbeitungsanlage steht“, sagt Sternekoch Hubert Obendorfer. „Höchstens ein paar Sensationstouristen, die aber gleich wieder abreisen würden.“ Obendorfer hat sein Vier-Sterne-Hotel „Birkenhof“ 1997 hoch über Hofenstetten eröffnet. Die ersten Pläne dafür hatte er schon viel früher. Eigentlich noch bevor das WAA-Vorhaben konkret wurde. „Als klar war, was kommt, war das Thema erst mal durch“, erzählt der mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Koch. Obendorfer verabschiedete sich ins Ausland.

Heute boomt der Tourismus überall im Landkreis. Im vergangenen Jahr wurden 292 912 Übernachtungen verzeichnet. In den 1980er Jahren konzentrierten sich die Gästeströme vorwiegend auf die Region Schönsee. „Das Tourismusgebiet Seenland in seiner heutigen Form wäre wohl gar nicht erst entstanden, wenn die WAA gebaut worden wäre“, ist sich Alexandra Beier vom Tourismusbüro Oberpfälzer Wald in Nabburg sicher. An den Campingplätzen in der Gemeinde Bodenwöhr, die es schon in den 1950er Jahren gab, hätten sich wahrscheinlich nach der Inbetriebnahme der nuklearen Anlage weniger Gäste erholt, sicher hätten auch die historischen Städte Nabburg, Oberviechtach und Neunburg vorm Wald an Attraktivität verloren. Doch nicht nur die Touristen wären ausgeblieben, auch die Einheimischen wollten weg. 5000 Menschen waren es schon während der Bauphase. „Und diese Verödung der Region hätte sich mit der Fertigstellung der Anlage weiter fortgesetzt“, ist der Schwandorfer Altlandrat Hans Schuierer (SPD) überzeugt.

Rudolf Reger, zuständig für Kreisentwicklung und Wirtschaftsförderung beim Landratsamt Schwandorf, sitzt in seinem Büro und kramt in alten Unterlagen. Nur noch wenig ist übrig, das meiste lagert bereits im Staatsarchiv in Amberg. Die 80er Jahre seien eine schwierige Zeit für den Landkreis gewesen, sagt er. Der Braunkohleabbau in Wackersdorf stand vor dem Aus, die Maxhütte musste schließen. Tausende Arbeitsplätze gingen verloren. In der Münchner Staatskanzlei glaubte Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU), dass die „industriegewöhnten Oberpfälzer“ deshalb die WAA ohne großes Aufbegehren schlucken würden. Die Arbeitslosenquote lag schließlich bei rund 20 Prozent. Strauß sollte sich gewaltig täuschen.

Die Wiederaufarbeitung gilt als gefährlichster Schritt im Atomkreislauf. Aus dem hoch radioaktiven abgebrannten Kernbrennstoff werden in heißer Salpetersäure die wiederverwertbaren Bestandteile Plutonium und Uran herausgelöst, um sie von Neuem zu Kernbrennstoff zu verarbeiten. Verglichen mit Kernkraftwerken geben Wiederaufarbeitungsanlagen erheblich größere Mengen radioaktiver Substanzen ab.

Landrat Hans Schuierer wurden diese gesundheitlichen Gefahren erstmals richtig bewusst, als ihn die Verantwortlichen der DWK über den Bau eines 200 Meter hohen Abluftkamins informierten. „Auf die Frage, wofür man so einen hohen Turm brauche, hieß es, dass die radioaktiven Schadstoffe so möglichst breit verteilt werden könnten“, erinnert er sich im Gespräch mit der MZ. „Da habe ich gedacht, wenn das schon im Normalfall gefährlich ist, um wie viel gefährlicher ist es, wenn ein Ernstfall eintritt. Das war einer der Aspekte, der mich zu einem entschiedenen WAA-Gegner werden ließ.“ Und wie Schuierer dachten auch viele andere. Bereits Anfang der 1980er Jahre warnte der Gießener Psychoanalytiker Professor Horst-Eberhard Richter vor den biologischen, psychischen und sozialen Auswirkungen der WAA. „Im Falle eines großen Unfalls in der Anlage wäre ärztliche Kunst sinnlos. Wir könnten euch nicht helfen.“

Die gesundheitlichen Gefahren

Dass die Anlage gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung bedeutet hätte, würde heute wohl niemand mehr bestreiten. Im Oberpfälzer Wald sind Wildschweine oder Schwammerl auch fast 30 Jahre nach dem Atomunfall in Tschernobyl noch radioaktiv belastet. Wissenschaftler wie die Physikerin Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake, Gründungsmitglied der Gesellschaft für Strahlenschutz e.V., führen auch eine Reihe von genetischen Schäden auf radioaktive Strahlung zurück. So wurden in Bayern nach Tschernobyl signifikant mehr Kinder mit Lippen-Gaumenspalten und anderen Fehlbildungen wie Spina bifida (offener Rücken) geboren. Experten sind sich allerdings bis heute nicht einig, ob sich das Krebsrisiko rund um Atomanlagen erhöht. Eine Reihe von Studien sprechen dafür. Rund um die Wiederaufarbeitungsanlagen im britischen Sellafield und im französischen La Hague wurde eine deutlich höhere Leukämierate bei Kindern und Jugendlichen nachgewiesen. Auch in der Gegend um die Atomkraftwerke Isar 1 und Isar 2 gibt es solche Auffälligkeiten. 1988 beruhigte Bundesumweltminister Klaus Töpfer in einem Interview mit der „Zeit“ die Bevölkerung: „Die Sicherheit hat für mich oberste Priorität. Und wenn mich heute nicht mehr die Gewissheit trüge, dass man mit Blick auf die Technik und den Menschen, der diese Technik nutzt, Kernenergie sicher verantworten kann, hätte ich die Kernkraftwerke sofort abzustellen, unbeschadet, ob dadurch wirtschaftliche Konsequenzen entstehen.“

Aber nicht nur die radioaktive Strahlung hätte eine Gefahr für die Oberpfälzer bedeuten können. Die WAA wäre mitten in der Bodenwöhrer Senke, dem größten Trinkwasserreservoir der Oberpfalz, gestanden. Wer hätte mit absoluter Sicherheit garantieren können, dass das Grundwasser nicht verseucht wird? Und wohin wären die Abwässer geleitet worden? Im Gegensatz zu den Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague und Sellafield liegt Wackersdorf nicht am Meer. Der Fluss Naab hätte das kontaminierte Wasser transportiert. Von dort wäre es zur Donau geflossen. Zum Vergleich: Laut Greenpeace pumpten die Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien jeden Tag zusammen rund zehn Millionen Liter radioaktive Abwässer in den Ärmelkanal und die irische See. Die Verseuchung von Meerestieren rund um die Anlagen sei vergleichbar mit der Kontamination nach nuklearen Großunfällen, sagt die Umweltorganisation. Angler würde man an der Naab heute sicherlich nicht mehr sehen.

Umweltaspekte taugten den WAA-Befürwortern deshalb wenig. Sie bedienten lieber andere Felder. Etwa die Gewerbesteuer. Sie wurde für die WAA auf 20 bis 30 Millionen Mark im Jahr geschätzt, wie „Die Zeit“ 1988 schrieb. Nach einem Schlüssel wäre die Gewerbesteuer unter den Kommunen Schwandorf, Wackersdorf, Bodenwöhr und Neunburg vorm Wald aufgeteilt worden. Schon während der Bauzeit wurden sogenannte Vorauszahlungen geleistet. Wackersdorf kassierte jährlich 900 000 Mark zinslos, Bodenwöhr über 700 000 Mark. Das war damals viel Geld. Und verfehlte seine Wirkung nicht. Der Wackersdorfer Bürgermeister Josef Ebner überwarf sich sogar mit seiner Familie, weil er die Atomfabrik als für die Region zwingend notwendig hielt – und fühlte sich nach dem WAA-Aus brüskiert. Der Bodenwöhrer Bürgermeister Josef Wiendl wurde zu einem Sprachrohr der DWK und warb für die sichere Atomkraft in Bayern. Er starb noch vor dem Baustopp im Jahr 1988.

Für seine Gemeinde hat sich dieses Engagement letztlich nicht ausgezahlt. Vom Industriepark Wackersdorf profitiert Bodenwöhr heute nicht, ebenso wenig wie Schwandorf und Neunburg vorm Wald. Die Steuer fließt allein in den Säckel der Gemeinde Wackersdorf, die deshalb zu den reichen Kommunen in Bayern gehört. Im Haushalt 2013 wurde ein Gewerbesteueraufkommen von 16,8 Millionen Euro verbucht. Mehr, als man sich von der WAA erhofft hatte. Rudolf Reger ist skeptisch, ob heute überhaupt noch Steuern aus der WAA fließen würden. Denn 2005 wurde gesetzlich festgeschrieben, dass es keine Transporte deutscher Brennelemente zur Wiederaufarbeitung mehr gibt. Und nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima ist auch der Atomausstieg beschlossene Sache.

Die Gewerbesteuer als Argument

Wäre die WAA heute eine Atomruine mit angrenzendem Zwischenlager für abgebrannte Brennstoffe? „Darüber kann man nur spekulieren, aber das Zwischenlager wäre sicherlich gekommen“, sagt Schuierer. „Der Baustopp für die WAA war ein Glücksfall für die Region“, sagt Reger. Nach dem Aus sank die Arbeitslosenquote Jahr für Jahr und liegt heute mit 3,5 Prozent noch unter dem Bayernschnitt. Mehr als 2000 Menschen arbeiten im Innovationspark Wackersdorf, es waren sogar schon über 3000 Beschäftigte in den Hochzeiten. Die Atomfabrik hätte es lediglich auf maximal 1600 Arbeitsplätze gebracht, nachdem, so erinnert sich Schuierer, anfangs von 3600 Arbeitsplätzen die Rede war. „Ich habe es in meiner Tätigkeit nie wieder erlebt, dass so viele Firmen Interesse an einer Ansiedlung gezeigt haben, wie damals beim WAA-Gelände. Jeder kannte den Ort aus den Medien. Das Gelände hatte bereits eine sehr gute Infrastruktur und viele hofften, sich zu günstigen Konditionen niederlassen zu können“, sagt Reger. Über 100 Anfragen erreichten den Ansiedelungsexperten bereits in den Tagen nach dem Aus. Ausgerechnet für den Landstrich, für den sich in den Jahren zuvor kein einziges Unternehmen erwärmen konnte – außer der Atomindustrie. Die DWK selbst übernahm die Verteilung des 140 Hektar großen Areals. Auf die Wilden KG, die sich im WAA-Werkstattgebäude niederließ, folgten Sennebogen und BMW. Der Automobilhersteller sicherte sich 50 Hektar Gelände, darunter auch das Brennelemente-Eingangslager, das neben dem atomaren Teststand für Castorbehälter bereits fertiggestellt war. Das Brennelemente-Eingangslager mit seinen meterdicken Wänden ist erdbebensicher, gepanzert gegen Flugzeugabstürze und mit einer eigenen Lüftung. „Und BMW kann darin wegen der Temperaturverhältnisse nur Kartonagen lagern“, sagt Reger.

Es entstanden tiefe Gräben

Vergessen haben die Menschen der Region die WAA auch 25 Jahre nach dem Baustopp nicht. Es hat wie kaum ein anderes Ereignis die Gesellschaft geprägt, sagt Schuierer. In vielen Familien gab es tiefe Gräben. Vereine zerstritten sich, Stammtische lösten sich auf. Die einen hofften auf sichere Arbeitsplätze, die anderen hatten Angst vor den ungewissen Folgen. Hubert Obendorfer erzählt von den Spannungen in seiner Familie: „Der Vater unterstützte als großer Gegner den Widerstand mit Schlafplätzen, Essen und Trinken.“ Die Schwester sei dagegen positiv gestimmt gewesen, erhoffte sich einen wirtschaftlichen Aufschwung für die Region. Beim gemeinsamen Mittagessen, bei Familienfeiern – die WAA sei das ständige Thema gewesen. Und oft habe man sich bei diesen Diskussionen in Rage geredet. „Die Oberpfalz spaltete sich in Gegner und Befürworter“, sagt Obendorfer. „Da entstanden Gräben, die sehr schmerzhaft waren.“ Wäre die WAA fertiggestellt worden, dann wäre diese Zerrissenheit geblieben, ist Altlandrat Schuierer überzeugt. „Der Riss wäre sicherlich sogar noch tiefer geworden, wenn die wirtschaftlichen Versprechen der DWK nicht eingetreten wären.“ Denn Schuierer ist überzeugt, dass die Region mit der WAA noch immer von hoher Arbeitslosigkeit geprägt wäre. „Neben einer WAA hätten sich doch keine anderen Betriebe angesiedelt.“

Heute ist der Landkreis der Klassenprimus der Oberpfalz. Aus dem einstigen Armenhaus ist die Region mit dem höchsten Steueraufkommen geworden. Für Schuierer haben die acht Jahre Widerstand gegen das Atomprojekt vor allem eine Erkenntnis gebracht. Sie haben die Aussage widerlegt, dass sich die industriegewöhnten Oberpfälzer dankbar für jede Wirtschaftsansiedlung zeigen. Denn für Schuierer hat nicht der Tod von Franz Josef Strauß, sondern der Widerstand in der Bevölkerung das Milliardenprojekt zu Fall gebracht. Der frühere Landrat zitiert den damaligen Veba-Chef Rudolf von Bennigsen-Förder, der bei der Bekanntgabe der Pläne in Wackersdorf sagte: „Man kann gegen den Willen der Bevölkerung eine solche Anlage nicht errichten.“ Er sollte recht behalten. Alleine hätten die Oberpfälzer diesen Kampf aber nicht gewonnen, sagt Schuierer. „Wir können froh sein, dass uns Menschen aus ganz Deutschland und Österreich dabei unterstützt haben.“ Und am Ende schafften sie das Wunder.