Lesekompetenz
Übung: Strahlendes Erbe von Tschernobyl

Unsere Zeitung bietet Artikel, mit denen Schüler ihre Lesekompetenz trainieren. Dieses Mal geht es um das Atomunglück.

07.05.2016 | Stand 16.09.2023, 6:49 Uhr
Reparaturarbeiten am explodierten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl im Oktober 1986. In Deutschland war Bayern vor 30 Jahren am schlimmsten vom Fallout betroffen. −Foto: dpa

Unsere Zeitung bietet regelmäßig Übungstexte, mit denen Schüler ihre Lesekompetenz trainieren können. Lehrkräfte stellen fest, dass junge Leute zunehmend Probleme mit dem Lesen und Verstehen von Texten haben. Doch über das Lesen werden in Texten gespeicherte Informationen in Wissen umgewandelt. Lesekompetenz ist somit eine wichtige Voraussetzung für das Lernen, den Erfolg im Beruf und die persönliche, gesellschaftliche Teilhabe. Lesekompetenz stellt sich aber nicht von selbst ein, sie muss Schritt für Schritt angebahnt, geübt und gesichert werden. Wer lesekompetent sein will, muss nicht nur fähig sein, Texten selbstständig Informationen zu entnehmen und diese miteinander zu verknüpfen. Er muss zudem über ein Grundlagenwissen zu Texten, deren Inhalten, Strukturen und sozialhistorischer Dimension verfügen und basierend darauf über Texte reflektieren und begründete Schlussfolgerungen ziehen können. Um diese Ziele erreichen zu können, bedarf es gezielter Lesestrategien und Arbeitstechniken, die an Texten schrittweise geübt und dauerhaft gesichert werden sollen. Deshalb bietet unsere Zeitung Woche für Woche verschiedene Texte an, an denen die Schüler all das üben können.

Im aktuellen Übungstext geht es um das Atomunglück von Tschernobyl.Das ist der aktuelle Übungstext zum Herunterladen.Hier gibt es die Aufgaben.Und hier stehen die Lösungen zur Verfügung.

Das strahlende Erbe von Tschernobyl

In Bayern strahlen 30 Jahre nach dem Atomunglück nur noch Wildschweine und Pilze. Ganz anders ist die Lage in der Ukraine.

Von Stefan Stark, MZ

30 Jahre Tschernobyl: Der 26. April 2016 markiert im wahrsten Sinne des Wortes eine „Halbwertszeit“ – und damit einen besonderen Gedenktag an die Atomkatastrophe. Denn der physikalische Verfallswert des radioaktiven Spaltprodukts Cäsium 137 liegt bei 30 Jahren. Das bedeutet, dass die Aktivität heute noch zur Hälfte vorhanden ist. Dieser Stoff wurde beim GAU in großen Mengen aus dem Reaktor geschleudert und trägt bis heute zur Strahlenbelastung der Bevölkerung in Bayern bei – in Form von radioaktiven Wildschweinen und Waldpilzen, wie das Bayerische Landesamt für Umwelt auf Anfrage unserer Zeitung mitteilte. Besonders betroffen sind nach Messungen des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) der Bayerische Wald und Südbayern.

Zwischen 2011 und 2015 wurden Werte von bis zu mehreren Tausend Becquerel pro Kilogramm bei Wild und einzelnen Speisepilzen festgestellt. Die Einheit Becquerel gibt die Anzahl der radioaktiven Zerfälle in einer Sekunde an. In Deutschland ist es verboten, Lebensmittel mit einem Gehalt von radioaktivem Cäsium von mehr als 600 Becquerel pro Kilo in den Handel zu bringen. Für den Eigenverzehr gilt diese Beschränkung allerdings nicht.

Aktuelle Studie aus Bayern

In einer aktuellen Studie zu den Langzeitfolgen von Tschernobyl zieht das Landesamt für Umwelt insgesamt jedoch eine positive Bilanz: Die radioaktive Belastung der Böden hat längst wieder das Niveau vor Tschernobyl erreicht. Von den 1986 freigesetzten radioaktiven Stoffen ist in Deutschland praktisch nur noch Cäsium-137 messbar. Bezogen auf den Freistaat ist es gewissermaßen das einzige strahlende Erbe des Atomunglücks. Die meisten der 30 radioaktiven Nuklide, die damals aus der Ukraine zu uns gelangten, sind inzwischen zerfallen.

Als der Rektor in Tschernobyl am 26. April 1986 in die Luft flog, stiegen die radioaktiven Stoffe in große Höhen auf und wurden mit den Luftströmungen über halb Europa verteilt. Besonders traf die Strahlenwolke Gebiete südlich der Donau und des Bayerischen Waldes. Nach dem Durchzug der Wolke kletterte die radioaktive Belastung auf das bis zu 20-Fache der natürlichen Umgebungsstrahlung an. Doch bereits ab 1987 wurde ein deutlicher Rückgang gemessen. Das liegt zum einen daran, dass radioaktive Nuklide wie Jod-131 nach einigen Tagen zerfallen. Zum anderen, dass längerlebige Spaltprodukte wie Cäsium 137 mit der Zeit immer tiefer in den Boden abgesunken sind.

Fast alle Lebensmittel unbedenklich

Insgesamt können die Bundesbürger also beruhigt sein. Die damals freigesetzte Strahlung spielt heute bei den meisten bayerischen Lebensmitteln keine Rolle mehr. Milch, Milcherzeugnisse und Fleisch enthalten weniger als ein Becquerel pro Liter beziehungsweise pro Kilo. Auch Getreide, Obst und Gemüse sind laut dem Landesamt für Umwelt inzwischen gesundheitlich völlig unbedenklich. „In den Ackerböden ist die Radioaktivität für die angebauten Kulturpflanzen aufgrund des regelmäßigen Umpflügens und des jährlichen Aberntens kaum mehr verfügbar,“ teilte die Behörde mit. Auch vom Trinkwasser und von Speisefischen gehe keine Belastung aus.

Anders sieht es bei Wildbret und wildwachsenden Speisepilzen aus. Wer etwa rund um den Nationalpark Bayerischer Wald Pilze sammeln will, sollte sie mit Vorsicht genießen. Manche Schwammerlsucher haben sich sogar einen Geigerzähler zugelegt, den es für Preise um die 350 Euro zu kaufen gibt. Je nach Art und Standort sind die Pilze unterschiedlich belastet, sagte eine BfS-Sprecherin. An den vom Bundesamt untersuchten Orten erreichten Mohrenkopfmilchlinge, Trompetenpfifferlinge, Wohlriechende Schnecklinge und Semmelstoppelpilze mehr als 1000 Becquerel pro Kilo.

Bis zu 9800 Becquerel pro Kilo Wildschwein

Bei Wildschweinen in den noch heute stärker belasteten Gebieten stellten Experten sogar bis zu 9800 Becquerel pro Kilo fest – bei Rehwild dagegen 840 Becquerel. Die großen Unterschiede zwischen den Wildfleischsorten kommen vom Ernährungsverhalten. Die Wildschweine wühlen den Boden tief auf und fressen unterirdisch wachsende Hirschtrüffel, die außergewöhnlich hoch belastet sind. Die Werte liegen um mehr als das Zehnfache über den Werten von Speisepilzen. Daher ist Wildschweinfleisch deutlich höher kontaminiert als das Fleisch anderer Wildtierarten.

Auch in den kommenden Jahren ist nicht von einer Verringerung der Cäsiumbelastung in Wildschweinfleisch auszugehen, erklären die Experten. Wer seine persönliche Strahlenbelastung verringern wolle, sollte in den höher belasteten Gebieten Deutschlands auf den Genuss selbst erlegten Wildes und selbst gesammelter Pilze verzichten, rät das BfS. Die Behörden sehen jedoch keinen Grund zur Panikmache: Der Verzehr einer Portion Wild mit einer Belastung von 600 Becquerel pro Kilo spiele im Vergleich zur natürlichen Strahlenbelastung der Bevölkerung – etwa durch Röntgenuntersuchungen – kaum eine Rolle und stelle eine vergleichsweise vernachlässigbare Gefahr dar. Auch wer viel mit dem Urlaubsflieger unterwegs ist, bekomme wegen der Strahlenbelastung in großer Höhe eine stärkere Dosis ab als von einem Teller Wildschwein.

Gesundheitliche Folgen für Deutschland umstritten

Die gesundheitlichen Folgen des Reaktorunfalls für Deutschland sind umstritten. Es gibt mehrere Studien, die auf eine Häufung von Totgeburten, Fehlbildungen bei Babys hinweisen, deren Mütter im Jahr der Tschernobyl-Katastrophe schwanger waren. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) spricht von bis zu 3000 zusätzlichen Totgeburten in Deutschland als Folge von Tschernobyl. Zudem berichteten einzelne Wissenschaftler über einen Anstieg von Leukämiefällen bei Kindern im Jahr 1992.

Hier finden Sie eine 360°-Reportage des WDR über die Geisterstadt Pripjat:

Die meisten nationalen und internationalen Experten sind sich allerdings darin einig, dass es keine messbaren Nachweise für eine negative Strahlenwirkung durch das Reaktorunglück gebe. Das Krebsregister Rheinland-Pfalz verwies auf eine gemeinsame Studie mit dem bayerischen Krebsregister, die einen Anstieg bei Schilddrüsenkrebs verzeichnete. Einen Zusammenhang mit Tschernobyl schloss eine Sprecherin allerdings aus. „Dafür war die radioaktive Strahlung in Deutschland damals zu gering,“ sagte sie.

Während sich die Radioaktivität in Süddeutschland zunehmend in tiefe Erdschichten verlagert, sind die Folgen im Katastrophengebiet rund um Tschernobyl auch heute allgegenwärtig. In die Todeszone – das Sperrgebiet um den Unglücksreaktor mit einem Radius von 30 Kilometer – darf man nach wie vor nur mit einer Sondergenehmigung. Mehr als 300 000 Menschen wurden laut BfS evakuiert und umgesiedelt. Die Umgebung direkt um die Evakuierungszone, wo mehr als fünf Millionen Menschen leben, ist nach wie vor stark kontaminiert. Denn mehr als die Hälfte des bei dem GAU freigesetzten Cäsium-137 regnete auf die Ukraine, Russland und Weißrussland nieder.

Opferzahlen klaffen weit auseinander

Doch eine genaue Zahl der Todesopfer wird nach Ansicht von Experten niemals genau zu ermitteln sein, weil ausreichende wissenschaftliche Studien fehlen. Die genannten Todeszahlen reichen von einigen Dutzend bis hin zu einer halben Million. Als am meisten strahlenbelastet gelten die Liquidatoren, von denen rund 800 000 im Einsatz waren. Meist handelte es sich dabei um junge Soldaten, die in der Sperrzone die Aufräumarbeiten erledigen mussten. Die IPPNW schätzt, dass allein bis zum Jahr 2005 bis zu 125 000 Liquidatoren starben. Die Hauptursache seine Schlaganfälle und Herzinfarkte, die zweithäufigste Krebserkrankungen. Die Forscherin Elena Burlakova identifizierte viele somatische Veränderungen als strahlenbedingte, vorzeitige Alterungsprozesse. Gleichzeitig kam es der Ukraine und in Weißrussland zu einem deutlichen Anstieg des ansonsten dort extrem seltenen Schilddrüsenkrebses. Bis zu 7000 Tschernobyl-Kinder erkrankten daran. Die IPPNW spricht außerdem von einer signifikante Zunahme von Brustkrebs und Kinderleukämie in den beiden am meisten betroffenen Ländern.

Strahlentod binnen weniger Wochen

Andere Organisationen wie die Internationale Atomenergiebehörde und die UN sind jedoch wesentlich zurückhaltender bei der Angabe von Opferzahlen. Als gesichert gilt diesen Angaben zufolge, dass insgesamt 47 Liquidatoren in den Folgejahren des Unglücks verstarben – 28 binnen weniger Wochen an akuter Strahlenkrankheit. Dass es keine annähernd stimmigen Angaben gibt, liegt daran, dass die Sowjetunion damals kein Interesse an einer Aufarbeitung der Katastrophe hatte. Die IPPNW-Ärzte verweisen zudem auf den Einfluss der Atomlobby.

Ein anderes Phänomen hat jedoch möglicherweise weit mehr Tote gefordert als Krebs und andere Krankheiten: Das sogenannte Tschernobyl-Syndrom. Viele der Überlebenden litten auch Jahre nach der Katastrophe unter Depressionen und Alkoholismus, wie Ärzte vor Ort berichteten. Zusätzlich zur Strahlenwirkung hat der Reaktorunfall nach Ansicht ukrainischer Mediziner ein gigantisches Stress-Syndrom ausgelöst. Hunderttausende wurden durch die Umsiedlung entwurzelt, Millionen lebten auch Jahre nach der Katastrophe in ständiger Angst, doch noch an den Spätfolgen von Tschernobyl zu erkranken. Dadurch soll es zu einem deutlichen Anstieg der Selbstmordrate gekommen sein.

Umweltradioaktivität in Bayern im Vergleich – 1986, zwei Wochen nach Durchzug der radioaktiven Wolke von Tschernobyl, und 2003, siebzehneinhalb Jahre nach der Reaktorkatastrophe: