Fotografie
121 Wege, das KZ zu überleben

Stefan Hanke aus Regensburg hat Menschen porträtiert, die durch die Hölle gingen. Jetzt erscheint sein beeindruckendes Buch.

20.04.2016 | Stand 16.09.2023, 6:54 Uhr
Er war der Fotograf von Auschwitz: Wilhelm Brasse. Seine entstellte Nase rührt übrigens nicht von Misshandlungen her, sondern ist Folge einer Alterskrankheit. −Foto: Fotos: (4) Stefan Hanke

Wer sich mit Stefan Hanke verabredet, um über sein Projekt „KZ überlebt“ zu sprechen, und nur eine Stunde Zeit einplant, ist selbst schuld. Der Regensburger Fotograf beschreibt so packend seine lange Reise zu Menschen, die durch die Hölle gegangen sind – auch vier Stunden wären keine Minute zu viel. Am Donnerstag wird sein großartiges Buch vorgestellt: 121 Porträts erzählen von Menschen, die die KZ-Vergangenheit verbindet, und von den vielen Arten, weiter zu leben.

Zum Beispiel Philip Bialowitz: Der 85-jährige Herr mit Hut steht im ehemaligen KZ Sobibor und hält den Ziegelstein einer Gaskammer in den Händen. Hinter ihm legen ein polnischer und ein israelischer Archäologe unter einer Betonplatte das Fundament der Gaskammer frei und liefern damit den Beweis für den planmäßigen Massenmord in Sobibor. 3000 Kilometer fuhr Stefan Hanke für dieses Foto. Bialowitz gelang 1944 eine spektakuläre Flucht aus Sobibor.

Oder Barbara Puc: Die elegante Dame sitzt auf einer gemauerten Kaminbank in einer ehemaligen Häftlingsbaracke in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Genau dort hatte ihre Mutter sie 70 Jahre zuvor zur Welt gebracht. Barbara war sehr zart. Die Nazis tätowierten dem Baby die Nummer 79496 auf den Oberschenkel, weil sein Ärmchen zu schmal war. Mutter und Kind überlebten.

Den Fotografen verfolgen die Bilder

Oder Wilhelm Brasse: Der 94-Jährige sitzt auf seinem Sofa, den Schoß voller Abzüge. Brasse war der Fotograf von Auschwitz. Von 1940 bis 1945 machte er rund 40 000 Bilder: von Häftlingen, von SS-Männern, von grausamen Experimenten Josef Mengeles und zum Beispiel von einem Mann mit wunderschönen Tattoos. Dieser Häftling wurde bald ermordet, seine Haut gegerbt – für einen Buchumschlag. Als die russische Front näher rückte, bekam Brasse den Befehl, alle Fotos zu vernichten. Er widersetzte sich und rettete die Zeugnisse für die Nachwelt. Seinen Beruf konnte er später nicht mehr ausüben: Immer, wenn er hinter die Kamera trat und das schwarze Tuch über den Kopf legte, tauchten Bilder von Auschwitz auf.

Oder Leon Weintraub: Der noble Herr im Zweireiher steht vor der Zeppelintribüne in Nürnberg, die Hände gefaltet, und schaut souverän in die Kamera. Es ist Januar, fünf Grad Minus, ein eisiger Wind pfeift, aber der 88-Jährige steht da, ohne Mantel, ungebeugt, wie ein Denkmal. „Als Überlebender ist es für mich ein besonderes Gefühl der Genugtuung, vor diesem Ausdruck des Größenwahns zu stehen. Ich fühle mich nicht als Opfer, sondern als Sieger.“

Oder Adolf Burger: Der 94-Jährige steht in der halb geöffneten Haustür, mit einem Blick, dem nichts entgeht. „Da war er, mit seinem ganzen Charisma. Ich drückte sofort drauf“, sagt Stefan Hanke. Eigentlich wollte er den Mann mit einem Geldschein fotografieren: Burger fälschte im KZ Sachsenhausen im Auftrag der SS Pfundnoten, mit denen das britische Finanzsystem unterminiert werden sollte. 2007 wurde Burger durch den Spielfilm „Die Fälscher“ berühmt.

Lesen Sie mehr überStefan Hankes Projekt „KZ überlebt“ hier.

Bialowitz, Brasse, Burger, Puc und Weintraub: Fünf Geschichten von 121. All diese Menschen haben das KZ überlebt, als Juden, als Kriegsgefangene, als politische Häftlinge, als Zeugen Jehovas, als Männer, die in einem Sonderkommando in der SS-Mordmaschinerie helfen mussten. Eine strenge Form bündelt die individuellen Schicksale. Jeder Porträtierte ist vertreten mit einem Bild, seinem Namen, seinen KZ-Stationen, einem Zitat, einer knappen Biografie und einer Bildlegende. Die Jüngste in Hankes Buch ist Jahrgang 1944, der Älteste war beim Fototermin 105. Jede Geschichte besitzt ihren eigenen Hintergrund, jeder Porträtierte hat eine eigene Haltung entwickelt, um weiter zu leben. Wie Aviva Banarie, die in die Kamera strahlt, den Stock energisch in den Boden rammt und sagt: „Ich habe überlebt und ich lebe immer noch, also lache ich!“

Das Buch ist ein großer Wurf

Stefan Hanke pfropft den Überlebenden keine Opferrolle auf. Auch deshalb schimmert „KZ“ auf dem Cover in Grau, aber „überlebt“ in leuchtendem Gelb. Seit seiner Jugend verfolgt den Fotografen das Thema KZ, seit 2004 hat er in sieben Ländern Überlebende porträtiert, immer in der Angst, der Tod könnte schneller sein, und gleichzeitig gezwungen zu der Geduld, die der Umgang mit alten Menschen braucht.

„KZ überlebt“ ist ein großer Wurf. Die Wanderausstellung ist 2017 in Regensburg zu sehen, das Buch wird am Donnerstag im kleinen Rahmen präsentiert. Im document Neupfarrplatz wird dann auch OB Joachim Wolbergs sprechen; die Stadt Regensburg hat das Projekt maßgeblich gefördert.

Zum Buch: Stefan Hanke: „KZ überlebt“, 264 Seiten, Verlag Hatje Cantz, 39,80 Euro

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