Buchtipp Alpines Sodom und Gomorra
MZ-Redakteure haben ein Buch über die Corona-Zeit geschrieben. Wir veröffentlichen einige der sarkastisch-lustigen Texte.

Regensburg.Manche sprechen von Geiz. Ich nenne es bewusste Entschleunigung. Bezahlfernsehen oder irgendein Streamingzeug kommen mir nicht ins Haus bzw. auf die Mattscheibe. Meine televisionäre Sozialisation war mit dem Ende der Adoleszenz abgeschlossen. Erstes, Zweites, Drittes: So einfach war das in der längst verblichenen Ära der öffentlich-rechtlichen Dreifaltigkeit. Seinerzeit wusste man auch noch, wo man gerade war. Die Serien hießen Dallas, Denver-Clan oder Schwarzwaldklinik, nicht House of Cards oder Game of Thrones.
Indes, unter der Ägide eines Bundespostministers – den gab es damals noch – namens Christian Schwarz-Schilling und im Dienste der von Kanzler Helmut Kohl ausgerufenen geistig-moralischen Wende schossen die Programme ins Kraut. Die neue Unübersichtlichkeit ließ meinen TV-Konsum peu à peu erlahmen. Zumal sich der Auftrag der privaten Kanäle zunächst darin erschöpfte, blanke Frauenbrüste ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken.

Gewiss, Sender wie Arte oder 3sat möchte man nicht mehr missen. Locken sie uns Betrachter doch mit ebenso fesselnden wie filigranen Reportagen über Verwaltungsreformen in der Inneren Mongolei oder nehmen uns mit auf eine bildgewaltige Reise durch Feuerland.
Insgesamt jedoch gab es über die Jahre Besseres zu tun, als zu glotzen. Kinder erziehen, Haus bauen, einen Baum pflanzen, täglich schuften – eben all das, was nach der Adoleszenz gewöhnlich so ansteht. In der Pandemie erwachte jedoch mein Interesse an Zerstreuung vor dem Bildschirm neu. Höchstwahrscheinlich aus Mangel an Alternativen. Baum und Haus stehen ja schon, die Kinder sind längst aus Letzterem. Also begab ich mich im Lockdown gleichsam auf eine ausgedehnte Erkundungstour auf der Fernbedienung, stieß in ferne TV-Welten vor, die mir bislang verschlossen geblieben waren.
Und siehe da: Der Erkenntnisgewinn war gewaltig! Das Fernsehen, dem ich so lange schnöde den Rücken gekehrt hatte, strebt inzwischen nach Höherem. Die Bergretter! Der Bergdoktor! Daheim in den Bergen! Das pralle Leben scheint sich nur mehr auf Höhen jenseits der 1000 Meter über dem Meeresspiegel abzuspielen. Und auf den Gipfeln tun sich Abgründe der Verderbtheit auf.
Nichts ist mehr übrig von der kuscheligen Atmosphäre des Heimatfilms der Fünfzigerjahre, als fesche Burschen und keusche Madln eineinhalb Fernsehstunden Anlauf bis zum ersten Kuss nahmen. Die Protagonisten heutzutage mögen vornehmlich in medizinischen Berufen tätig sein, sind aber primär unermüdliche Schürzenjäger und Wilderer im immerwährenden Kampf der Geschlechter. Auf diesem Sittengemälde röhrt nicht mehr der Hirsch, sondern der Arzt. Die Zahl unehelich gezeugter Kinder und gschlamperter Verhältnisse ist
in diesen montanen Dramen Legion, die Standesämter beurkunden im Akkord illegitime Geburten. Ein alpines Sodom und Gomorra! Von wegen „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd“! Wer unter diesen Vorzeichen eine Sommerfrische in den Alpen bucht, sollten wir jemals wieder verreisen dürfen, der möge sich sittlich wappnen, sollte moralisch gefestigt sein.
Das Buch Corona ante portas
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Verlag:
Das Buch „Corona ante portas. Eine Redaktion lüftet durch“ ist im Battenberg Gietl Verlag erschienen und ist im MZ-Onlineshop sowie im Buchhandel erhältlich. Es kostet 14,90 Euro, ISBN 978-3-95587-402-5.
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Autoren:
Zwölf MZ-Redakteure haben Geschichten aus ihrem Corona-Alltag beigesteuert.
Ich schalte derweil lieber um zur altehrwürdigen Sportschau im Ersten, in der junge Männer in kurzen Hosen und mit strammen Waden auf dem Rasen dem fiesen Virus trotzen. Fußball hat nichts Anstößiges, von den Gehältern mal abgesehen. Natürlich könnte ich mir auch ein Sky-Abo buchen und ohne Unterlass packende Duelle aus der zweiten rumänischen Liga gucken. Aber wie gesagt, Bezahlfernsehen kommt mir nicht ins Haus.
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