Album
Calexico auf dem Aussichtsturm

Virtuose Grenzgänger, deren Karriere einst in Regensburg begann: Calexico und ihr neues Album „El Mirador“

30.04.2022 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein
Die Band Calexico um Sänger Joey Burns (3. von links) und Drummer John Convertino (im Auto) hat Regensburger Anfänge. −Foto: CJ Strehlow/picture alliance/dpa/City Slang GmbH

Es war einmal. So beginnen Märchen. Damals also, in grauer Vorzeit, als Regensburg für einen kurzen glücklichen Moment so etwas wie die Welthauptstadt der Indie-Musik war, warteten Joey Burns und John Convertino, zusammen mit einem aufgeregten Publikum, auf die Eingebungen und Entschlüsse des Maestro. Howe Gelb, nach Selbstaussage ein Nachfahr ausgewanderter Böhmen, entwurzelter Indianer und diasporischer Juden, die einzig ihre Musikbegeisterung verband, sorgte in besseren Tagen für euphorische, sich bis tief in die Nacht hineinziehende Konzerterlebnisse, die Giant Sand in den Augen mancher zur besten Live-Band überhaupt machten. An schlechteren Tagen brach Howe Gelb jeden Song ab, bevor er die Chance hatte, sich zu entwickeln und verließ rasch und ohne Gruß wieder die Bühne. Giant Sand, das war im Grunde Howe Gelb. Alle anderen Musiker waren nur Hilfspersonal, willige Vollstrecker, deren vielleicht wichtigste Tugend Geduld war oder vielleicht auch Resilienz, wie man heute sagen würde: die Fähigkeit, vieles zu ertragen.

Stil: Album:
Der Mix prägt den Charakter von Calexico, von mexikanischer Mariachi-Musik, Folk- und Country-Rock bis hin zu Latin Jazz. Auch inhaltlich gehen sie an und über die Grenze zwischen Mexiko und den USA.El Mirador ist bei City Slang (Rough Trade) erschienen; CD ca. 17 Euro, Vinyl ca. 22 Euro.

In diesen Regensburger Tagen fanden Joey Burns und John Convertino einen Ausweg, ein Schlupfloch aus der Misere. Sie verließen Howe Gelb zwar (noch) nicht. Aber sie gründeten nebenbei eine eigene Band. Und ein regionales Label veröffentlichte ihre ersten Songs. Dieses Debüt-Album, noch unter dem Bandnamen „Spoke“ 1997 auf „Hausmusik“ erschienen, ist längst eine Rarität. Und Calexico, wie sie sich dann rasch nannten, hat, was Popularität und Verkaufszahlen betrifft, Giant Sand längst hinter sich gelassen.

Ihr Erfolg verdankt sich einer bemerkenswerten Mischung, die schon der Bandname anzeigt. Calexico ist ja zusammengesetzt aus Cal(ifornia) und (M)exico, ihren beiden Heimaten. Auch wenn sie genau genommen einst in Tucson/Arizona lebten und mittlerweile in El Paso (John Convertino) und Idaho (Joey Burns) ihre Zuflucht gefunden haben. Calexico verbindet, was scheinbar partout nicht zusammenpassen will: vitales, fröhliches Volksfest- und Jahrmarktfeeling, für das exemplarisch die Mariachi-Trompete steht, und vergrübeltes, manchmal überaus düsteres Songwriting mit unverkennbar autobiografischen Bezügen.

Da ist es nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten. Da braucht es einen Aussichtsturm. „El Mirador“, der Ausguck, lautet denn auch konsequenterweise der Titel ihres soeben erschienenen Albums. Was Joey Burns, halb auf englisch, halb auf spanisch, beschreiben will, wird nicht ganz klar. Das leitmotivische „brummt in deinem Herzen“ kann man so oder so verstehen. Unüberhörbar aber ist, dass er eine tiefe, existenzielle Klage anstimmt: „for miles and miles“, also im weiten Umkreis, ist da keiner, an den er sich halten oder auch nur wenden könnte.

Und wenn man sie selbst durchleben muss, hat auch die Hobo-Romantik so ihre Tücken: „Ein zerknitterter Hut, den ich mein zu Hause nenne“, das klingt nicht unbedingt nach einem bequemen Lager. Aber wie einst schon bei Howe Gelb ist John Convertinos Schlagzeugspiel stoisch, als wolle er sich nicht ohne Not beeindrucken lassen. Joey Burns will, auch mit Hilfe seiner Gitarre und seinen manchmal verrätselten Lyrics, endlich Schluss machen mit dem, was ihn bedrückt: den Rassismen, Sexismen und sonstigen Normierungen und Beschränkungen, die einem den Alltag schwer machen oder versauern.