Kunst
„Dann bin ich dieses tote Tier“

Die Ukrainerin Mariana Yaremchyshyna zeigte in der Schwandorfer Kebbel-Villa ihre eigene Performance „Hungeressen“.

21.11.2018 | Stand 12.10.2023, 10:21 Uhr
Helmut Hein

„Hungeressen“ betitelte die Künstlerin Mariana Yaremchyshyna ihre Performance. Foto: Lucas Treise

Mariana Yarimchyshyna ist erst 23, aber Kafka hat sie schon immer gelesen und verehrt. „Schon immer“ heißt: bereits als Teenager, mit 16. Und was hat sie gelesen? Das „Schloss“, diesen rätselhaftesten aller Romane des vergangenen Jahrhunderts, die „Verwandlung“ und den „Hungerkünstler“. Er wurde nicht nur ihr ästhetisches Vorbild, sondern auch ihr existenzielles: Der Schriftsteller war für sie wichtig, aber fast mehr noch der Lebens-Künstler oder, wie sie das in einem Aufsatz nennt, der „vegetarische Aktivist“.

Kafka hatte Probleme mit dem Essen, vor allem mit dem Essen von Tieren. Der längst zu einer Legende gewordene Konflikt mit dem Über-Vater konzentriert sich in diesem Bild: wie das Schweinebratenfett aus seinem Mund tropft, während er kräftig, geradezu wollüstig zubeißt, und der schmale Sohn Franz, der beim Mittagstisch mit einem Yoghurt und ein paar Körnern vor ihm sitzt, zur Provokation wird, zu dem, der den Familienfrieden stört. Kafka, meint Mariana, fühlte sich erst besser, als er aufhörte, Tiere zu essen. Dass Ärzte einem Tuberkulosekranken von einer fettarmen, fleischlosen Ernährung eher abraten, lässt sie nicht gelten. „Normalerweise“, sagt sie, „wäre er nach der endgültigen Diagnose innerhalb eines Jahres gestorben. Aber als Vegetarier lebte er noch weitere sieben Jahre. Und er überstand die Spanische Grippe.“

Nahrung behindert das Denken

Sie selbst ist noch radikaler als Kafka. Sie ist konsequente Veganerin, nimmt überhaupt keine tierischen Nahrungsmittel zu sich. Spuren eines Mangels sieht man ihr nicht an. Sie ist zwar klein, aber sie betont, dass sie stark sei. Diese Stärke braucht sie auch, denn ihre Spezialität sind sehr, sehr ausgedehnte Performances. Ihre längste dauerte 72 Stunden.

Ihre Schwandorfer Performance nennt sie, frei nach Kafka, „Hungeressen“. Sie deutet Kafkas berühmte Erzählung sehr eigenwillig, aber durchaus suggestiv. Die Aussage des „Hungerkünstlers“, dass er ja nur hungere, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt“, die schon zum Anlass aufregender Interpretationen wurde, in der die Metaphern nur so wucherten, nimmt sie wörtlich und direkt. Wäre der Hungerkünstler Veganer, müsste er nicht hungern. Und das gleich in einem doppelten Sinn: Der Ekel vor Nahrung würde genauso verschwinden wie das Bedürfnis nach ihr.

Sie selbst isst nur sehr wenig, ist aber nie hungrig. Wenig zu essen, ist für sie auch eine Frage der „Reinheit“. Nahrung belastet, solange man sie verdaut, nur den Körper, gibt ihm nicht Kraft, sondern schwächt ihn und hindert einen an der Klarheit des Denkens und Fühlens. Wer nun fürchtet, Mariana könnte eine magersüchtige junge Frau sein, kann sich beim Blick auf ihre vielen Performances – bei denen sie oft nackt ist – vom Gegenteil überzeugen: Mariana ist schlank, aber alles andere als nur Haut und Knochen.

Feministin und Tierethikerin

Mariana, die jetzt einige Zeit in Schwandorf-Fronberg als Austauschkünstlerin lebte und arbeitete, versteht sich als „artist“. Aber sie ist auch Feministin und Tierethikerin. Männern misstraut sie, weil sie in dieser patriarchalen Gesellschaft zur Dominanz und zum Töten abgerichtet würden – selbst also nur halb Täter und halb auch Opfer. Das qualvolle Sterben von Tieren kann sie nicht ertragen: „Ich bin dann dieses tote Tier“, sagt sie, und meint es nicht nur im übertragenen Sinn.

Die intensivste Beziehung in ihrer Schwandorfer Zeit war die zu einem Mann, dem sie dabei zuschaute, wie er einen Fisch aus der Naab holte und das heftig zappelnde Tier mit ein paar kräftigen Schlägen tötete. Auf ihre Frage, warum er das tue, antwortete er: „Ich habe Hunger.“ Das lässt sie nicht gelten. „Dabei war er so dick“, wendet sie ein. Können dicke Männer nicht Hunger haben? Sie hält das für unmöglich. Der Mensch, das weiß jeder Ultra-Marathon-Läufer, kann auf Fettstoffwechsel umstellen, sich also gewissermaßen selbst verzehren. Sie selbst ist nicht dick und hat doch nie Hunger, jedenfalls keinen physischen. Sie zitiert aus dem Gedächtnis eine Tagebuchnotiz Kafkas, der beim Anblick eines Fisches in einem Aquarium sinngemäß sagt: Jetzt erst kann ich dich in Ruhe betrachten, weil ich dich nicht mehr esse.

Veganer wollen nicht, dass Tiere sterben müssen, nur weil wir sie essen möchten. Wenn sie erst einmal eine reiche Künstlerin sei, werde sie all diese Tiere bei sich aufnehmen und mit ihnen leben, gewissermaßen als Tier unter Tieren. Auf die ein wenig heimtückische Bemerkung: „auf einer Animal Farm“ fällt sie nicht herein; sie ist belesen; sie weiß, wovon George Orwells Text handelt.

Schmerz und Verlust empfinden

Bekannt, ja eine kleine Berühmtheit wurde Mariana Yaremchyshyna als Re-Performerin von Marina Abramovic. Das heißt: Sie lässt einige von deren berühmten Performances, „con variazioni“, wiederaufleben. Sehr überzeugend übrigens, selbst wenn man so seine Zweifel hat, ob es der Sinn einer Performance sein kann, sie zu wiederholen. Viele dieser Performances sind mit Schmerz verbunden – wenn sie es etwa eine halbe Stunde lang, weit oben an einer Wand, nackt auf einem schmalen Fahrradsitz aushalten muss, oder mit Risiko – wenn sie sieben, acht Meter über hartem Betonboden auf einem bei jedem Schritt schwankenden geländerlosen Holzsteg balanciert.

Oder mit Verlust: Mit ihrer indischen Freundin schnitt sie sich in einer Vier-Stunden-Prozedur die schönen langen Haare ab und verbrannte sie. Das erinnert an eine ähnliche Performance von Yoko Ono, bei der die Täter freilich die Zuschauer sind, und eine ähnliche, noch brutalere von Abramovic, bei der sie auf einem Tisch alle möglichen „Instrumente“ bereitlegt, mit denen man sie quälen darf.

Man kann nicht über Schmerz reden, ohne selbst Schmerz zu empfinden, ist Marianas feste Überzeugung. So wie die Nacktheit, das Ausgestellt- und Ausgeliefertsein vor Publikum eine Art Opfer darstellt, etwas Heiliges, so verhält es sich auch mit dem Schmerz, der reinigend wirkt. Auch „Hungeressen“ kommt nicht ohne Leid und Verluste aus. Sie nennt es, nah an Kafka, „self-affliction“ und darin steckt auch die Bedeutung „Betrübnis“, „Not“. Und zu dieser „Hungeressen“-Performance gehört auch das tote Tier, von dem sie sagte: „Ich bin dieses tote Tier.“

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