Interview
Die Anatomie positiv sehen

Süleyman Ergün leitet das Anatomische Institut der Universität Würzburg. Er spricht mit uns über Anatomie und Filmkunst.

22.05.2016 | Stand 16.09.2023, 6:46 Uhr

Süleyman Ergün leitet das Anatomische Institut der Universität Würzburg.

Herr Professor Ergün, was ist der Unterschied zwischen Ihnen und Professor Börne, der im Tatort aus Münster einen Pathologen spielt?

Süleyman Ergün: Zwischen der Gerichtsmedizin und der Anatomie gibt es einen großen Unterschied. Gerichtsmediziner versuchen die Todesursache so weit wie möglich zu rekonstruieren. Die Anatomie beschäftigt sich mit dem normalen Aufbau des menschlichen Körpers. Hier in Würzburg präparieren wir mit den Studenten gemeinsam in jedem Wintersemester von Oktober bis Februar alle Details des menschlichen Körpers: alle Organe, alle Knochen, alle Muskeln. Schritt für Schritt. Von der Oberfläche bis in die Tiefe. Bauchorgane, Beckenorgane, Brustorgane, Herz, Hirn, die großen Gefäße, Auge, Ohr, Gleichgewichtsorgan. Also wirklich beinahe alles. Uns geht es darum, den normalen Aufbau des menschlichen Körpers zu lehren. Das machen wir im Wintersemester in dem makroskopischen Kurs. Passend dazu gibt es im Sommersemester den mikroskopischen Kurs, um den feingeweblichen Aufbau der Organe zu studieren. Dann lernen die Studenten, wie ein Herzmuskel oder eine Herzklappe im Detail aussieht. Das ist die Lehraufgabe des Anatomischen Instituts. Der andere Teil der Aufgabe ist die Forschung, die uns auch viel Spaß bereitet.

Sie haben die Tatort-Crew fachlich beraten. Von welchen Fehlern haben Sie die Filmleute bewahren können?

Süleyman Ergün: Wir haben uns zunächst theoretisch überlegt, was überhaupt in einem Anatomischen Institut passieren kann und was nicht. Kann man zum Beispiel jemanden umbringen und ihn danach in die Anatomie schleusen, um sich der Leiche zu entledigen? Jeder weiß: Wir Menschen sind zu allem fähig. Wenn wir uns etwas in den Kopf gesetzt haben, und noch dazu hoch kriminell sind, dann sind wir auch in der Lage, so etwas durchzuziehen. Hier kommt die wissenschaftliche Genauigkeit ins Spiel. Dann würde ich also sagen: es ist zu 99 Prozent unmöglich, eine Leiche nach einem Mord in unserem Institut verschwinden zu lassen. In dieser kleinen Wahrscheinlichkeit wird die Sache aus der künstlerischen Sicht spannend. Sie müssen sich in diesem einprozentigen Bereich bewegen, damit es nicht langweilig wird.

In der neuen Folge des Franken-Tatort bekommt Dagmar Manzel alias Hauptkommissarin Paula Ringelhahn in Ihrem Institut ein Herz in die Hand gedrückt. Ein echtes?

Süleyman Ergün: Nein, die Fernsehzuschauer werden kein echtes Herz zu sehen bekommen. Aber das Modell sollte so sein, das es möglichst echt aussieht. Und ich meine, das tut es. Ein echtes Herz im Fernsehen ist meiner Meinung nach aus zwei Gründen nicht möglich. Erstens ist es nicht jedermanns Sache, sich an eine fixierte Leiche heranzuwagen und Organe herauszunehmen. Das wissen wir von unseren Studenten, wie ehrfürchtig sie zu Beginn des Präparierkurses im Oktober sind. Das ist ja auch sehr sinnvoll. Das soll auch so sein. Das wirkt erzieherisch und ist eine gewollte Komponente, die diesen Kurs begleitet. Die Studenten werden erzogen, ethische Achtung im Umgang mit dem menschlichen Körper zu haben. Ich glaube, das ist ein ganz ganz wesentlicher Bestandteil in jeder Kursstunde. Wenn man sich einem echten Körper nähert, dann ist das ein Riesenunterschied zu einem Modell. Für die Schauspieler wäre es daher nicht einfach gewesen, sich bei den Dreharbeiten an einem echten Körper zu nähern.

Den Menschen, die dem Institut nach dem Tod ihren Körper spenden, wäre es vielleicht auch nicht Recht gewesen?

Süleyman Ergün: Ja. Ein Körperspender darf nur für Lehre, Fortbildung und Forschung verwendet werden. Das sind die drei wesentlichen Punkte, die in der Körperspender-Vereinbarung festgelegt sind. Man muss sich aus ethischen Gründen genau darauf beschränken. Man darf Körperspender öffentlich nicht zur Schau stellen. In dem Franken-Tatort sind die echten Räume zu sehen, wo Körperspender tatsächlich präpariert werden, aber keine echten Körperspender.

Welchen Dienst kann der Tatort der Anatomie erweisen?

Süleyman Ergün: Nach dem Tod dem Leben dienen. Wenn diese Botschaft beim Publikum ankommt, dann würde uns das sehr freuen. Wenn sich Menschen überlegen, nach ihrem Tod der Wissenschaft als Körperspender zu dienen. Das ist die entscheidende Botschaft.

Befürchten Sie, dass die Anatomie im Krimi unheimlich auf die Zuschauer wirkt?

Süleyman Ergün: Nein, in der Anatomie ist nichts unheimlich. Ich hoffe, dass die Fernsehzuschauer die Anatomie danach genauso wie unsere Studenten positiv sehen und beurteilen werden. Die Medizinstudenten geben dem Anatomie-Kurs immer die höchsten Bewertungen. In diesem Kurs erleben die Studenten, dass sie als Ärzte nach dem Studium tatsächlich Heilkunst am menschlichen Körper betreiben werden. In dem Anatomie-Kurs wird das den Studenten zum ersten Mal praktisch bewusst. Das war bei mir in meiner Zeit als Student genauso.