Theater
Ein heiterer Abend der Züchtigung

„Schlafe, mein Prinzchen“: Franz Wittenbrink bringt in Berlin Strafwut und Missbrauch bei den Domspatzen auf die Bühne.

01.09.2015 | Stand 16.09.2023, 7:01 Uhr
„Schlafe, mein Prinzchen“: Annemarie Brüntjen, Andreas Lechner und der Chor in einer Szene des Franz-Wittenbrink-Abends in Berlin −Foto: Barbara Braun

„Silentium!“ Seit der Verfilmung des gleichnamigen Wolf-Haas-Krimis 2004 muss man das eigentlich nicht mehr übersetzen: „Silentium! heißt Halt’s Maul! auf lateinisch.“

Die Bühne des Berliner Ensembles hat sich zur Eröffnung der neuen Spielzeit in den Studiersaal eines berühmten Musikgymnasiums verwandelt. Die Knaben sitzen an ihren Bänken, machen ihre Mathe- und Lateinhausaufgaben, und der Präfekt Fortner schreitet die Bankreihen ab. Bis die gespannte Stille durch einen heruntergefallenen Bleistift wie eine Blase zerplatzt.

„Müller! Ruhestörung!“ brüllt es aus dem Präfekten Fortner heraus. Aber der zehnjährige Manni Müller kann sich nicht so stillhalten, wie er sollte. Es folgt Ruhestörung zwei und Ruhestörung drei, und dann ist er fällig: er muss auf den ausgestreckten Armen einen Stapel Bücher halten. Das hält der Junge nicht lang durch, die Bücher fallen auf den Boden. Die Strafwürdigkeit des Delinquenten ist nun endgültig erwiesen: Er muss niederknien und bekommt vom Präfekten eine festgesetzte Zahl von Ohrfeigen verabreicht. Links, rechts, links, rechts. Der Studiersaal zuckt bei jeder Ohrfeige zusammen.

Das Grauen in schönsten Tönen

Ja, natürlich geht es hier um die Domspatzen (auch wenn sie nicht genannt werden). Franz Wittenbrink, Jahrgang 1948, hat sie schließlich am eigenen Leib erfahren. Er verdankt ihnen, wie er jederzeit bekennt, seine „großartige musikalische Ausbildung“. Bis heute für ihn untrennbar verbunden mit dem musikalischen Himmel: die Hölle der schwarzen Pädagogik. „Das Prügeln auf den nackten Hintern, das ausgeklügelte System sadistischer Bestrafungen, der direkte sexuelle Missbrauch, dem ich glücklicherweise entkommen konnte, weil mein Onkel prominenter bayerischer Politiker war“ (nämlich der langjährige Ministerpräsident Alfons Goppel).

Doch der Strafwut der Erzieher entrinnt auch der kleine Franz Wittenbrink nicht: Der arme Manni Müller, an dem sich der Präfekt Fortner austobt, das ist er selbst. In dem Dokumentarfilm „Sünden an den Sängerknaben“ von Mona Botros, der Anfang Januar in der ARD Furore machte (und der in der ARD-Mediathek zu sehen ist), erzählt er genau diese Szene.

Sie singen wie der echte Chor

So viel steht fest: Brecht hätte er gefallen, dieser Liederabend. Nicht nur, weil Brecht die Katholiken mit ihrer Doppelmoral auf dem Kieker hatte, sondern auch, weil Wittenbrink sich nicht mit den Domspatzen begnügt. Mit einer regelrechten Detonation wechselt er plötzlich zur Odenwaldschule, jener reformpädagogischen Vorzeigeschule, in der alles so wahnsinnig locker zuging. Und wo die Kinder und Jugendlichen ebenfalls dem Chef persönlich sexuell zu Diensten sein mussten. Die gleichen Schauspieler, die eben noch Präfekt und Direktor im hohen gotischen Gewölbe waren (Bühne: Alfred Peter), sind nun antiautoritäre Pädagogen – die ihren Schutzbefohlenen genauso in die Hose langen. Diesmal eben nicht zu einem Mozart’schen „Agnus Dei“, sondern zu „Keine Macht für niemand“ von Ton Steine Scherben.

Jens Neundorff: „Ein starker Abend“

Jens Neundorff von Enzberg ist der gleichen Meinung: „Ein starker Abend, ein lohnenswerter Abend!“ Der Regensburger Intendant ist nur für diese zwei Theaterstunden nach Berlin gefahren und hat es nicht bereut: „Ein diskutabler Beitrag zu dem, was Theater leisten kann. Und nachdem Franz Wittenbrink das alles selbst erlebt hat, ist es ja auch unanfechtbar.“ Doch ein Gastspiel des Berliner Ensembles am Theater Regensburg wird es nicht geben: „Das können wir uns finanziell nicht leisten.“

Die Diözese Regensburg wollte lange nichts wissen von Kinderschändung bei den Domspatzen, obwohl ein Direktor 1959 wegen Unzucht mit Abhängigen ins Gefängnis ging. Ein ehemaliger Direktor des Internats wurde 1969 wegen seiner „Umtriebe“ in einer Oberpfälzer Blaskapelle verurteilt. Da tut es unendlich gut, wenn die eigene Geschichte auf einer so berühmten Bühne nachgespielt wird. Udo Kaiser und Alexander Probst danken den Schauspielerinnen, die ihre Rolle übernommen haben, und auch die sind sehr bewegt: Sie kennen die Männer natürlich aus der Doku. Die jungen Frauen und die älteren Herren fallen sich um den Hals. „Grandios!“ bringt Udo Kaiser nur noch heraus. Er ist kurz vorm Heulen.

Nochmal der Jesuit Georg Maria Roers: „Die Kinder von damals sind heute Männer, die auf die 70 zugehen. Ihr Leid ist nicht vergessen, dank des Berliner Ensembles. Es schreit in den Berliner Himmel!“