Literatur
Ein Wunderkind erinnert sich

Erfolgsschriftssteller Hanns-Josef Ortheil präsentierte in Regensburg sein neues Buch „Berlinreise“: naseweis und amüsant.

16.11.2014 | Stand 16.09.2023, 7:11 Uhr
Stephan Grotz
Nachdem er es zum Katholikentag nicht geschafft hatte, las Erfolgsautor Hanns-Josef Ortheil jetzt in der Regensburger Dreieinigkeitskirche. −Foto: altrofoto

Wer am Freitagabend in die Regensburger Dreieinigkeitskirche ging, um die Lesung mit Hanns-Josef Ortheil zu besuchen, war nicht einfach auf einer Buchpräsentation. Vielmehr fand dort die „Finissage des Katholikentages in einer evangelischen Kirche“ statt. So jedenfalls sah es der Würzburger Theologe Erich Garhammer.

Denn Garhammer hatte Ortheil bereits zu diesem kirchlichen Mega-Event in die Domstadt eingeladen, der war aber verhindert und versprach Ersatz. Der Nachholtermin inspirierte Garhammer zu einem neuen Format, und so wurde aus der späten „Finissage“ zu gleich auch eine Auftaktveranstaltung: „Literatur findet Stadt“ heißt die Reihe, die es künftig zweimal im Jahr geben soll und an der sich neben dem Evangelischen Bildungswerk auch Bücher Pustet und die Staatliche Bibliothek Regensburg beteiligen.

Gleich zu Beginn machte der berühmte Autor der Donaustadt ein riesiges Kompliment – und war damit schon mitten im Thema des Abends. Regensburg sei „eine meiner liebsten Städte“, ließ Ortheil wissen: „Dorthin habe ich mit 16 Jahren eine Reise allein gemacht und die Stadt eine Woche lang erkundet.“ Seine Erlebnisse hat er in einem Reisebericht festgehalten. Genauso, wie er es zuvor schon bei seiner Fahrt nach Berlin im Alter von zwölf Jahren tat.

Vom Schweigen zum Schreiben

Seine damaligen Aufzeichnungen von der geteilten Metropole hat Ortheil nun unter dem Titel „Berlinreise“ veröffentlicht. Wer meint, das sei nicht sonderlich aufregend, täuscht sich gewaltig. Denn ein Autor von Ortheils Format begnügte sich auch schon in jungen Jahren nicht mit einer Aneinanderreihung von touristischen Belanglosigkeiten.

Das zeigt sich schon daran, wie Ortheil zum Schreiben kommt: über das Schweigen. Das Stummsein prägt Ortheils persönliche Familiengeschichte. Seine Mutter, eine Bibliothekarin, verweigert das Sprechen, nachdem sie zwei Söhne im Krieg und unmittelbar danach zwei durch Fehlgeburten verloren hat. Auch der dreijährige Hanns-Josef spricht kein Wort mehr. Erst mit sieben Jahren findet er wieder zur Sprache – dann aber mit einer Intensität, die das Versäumte nachholen will.

Für die Eltern ein schlimmer Ort

Der Junge wird systematisch zum Schreiben animiert, besonders von seinem Vater, einem Vermessungsingenieur und späteren Bundesbahndirektor. Auf unzähligen Kellnerblöcken hält der junge Ortheil fest, was seinen Alltag ausmacht. Der ist zwar nicht immer besonders, aber er muss stets besonders dargestellt werden. „So wurde ich ein kleiner Mozart des Schreibens“, bemerkt Ortheil nicht ohne Ironie.

„Berlinreise“ liest sich heute wie eine Zeitkapsel, in der eine weitere Zeitkapsel versteckt ist: Der zwölfjährige Ortheil berichtet im Jahr 1964 von seiner Fahrt mit dem Vater in die geteilte ehemalige Reichshauptstadt. Dort hatten seine Eltern bis zum Kriegsende gelebt – für sie eine katastrophische Zeit, die sie hinter sich lassen mit ihrer Rückkehr ins heimische Rheinland. Während des Berlin-Besuchs will der Vater alte Freunde wiedersehen und ein paar persönliche Sachen abholen, die dort geblieben sind. Darunter befinden sich auch Aufzeichnungen von Ortheils Mutter, denen der Sohn nun am Ort des damaligen Geschehens buchstäblich nachgeht.

Hochgradig sprachbegabt

Der Reiz des Buchs liegt darin, dass sich Ortheil nicht künstlich in die Kindheit zurückversetzen und die kindlichen Anschauungen von damals fingieren musste. „Berlinreise“ bietet vielmehr originalen Kindermund: hochgradig sprachbegabt, aber auch ein bisschen naseweis und altklug. Das wirkt umso witziger, wenn der Junge sich Dinge klarmachen will, die noch nicht in seine Vorstellungswelt passen. Und so präsentiert Ortheil dem gebannt lauschenden Publikum köstliche Definitionen der Eckkneipe, der Berliner Art oder der „schönen Begegnung“. Man muss den sympathischen Jungen von damals einfach bewundern. Ganz wie es sich für einen kleinen Mozart eben gehört.