Ausstellung
Erich Gohl aus allen Rohren

Der Leere Beutel mutiert zur „Wunderkammer Gohl“: Zu seinem 60. sprengt der Künstler sämtliche Grenzen.

30.09.2019 | Stand 16.09.2023, 5:34 Uhr
Florian Sendtner

Erich Gohl vor seinem Bild „Parade der zurückschlagenden Kinder“ im Leeren Beutel Foto: Florian Sendtner

Der Leere Beutel heißt ab sofort Erich-Gohl-Museum – zumindest die nächsten sieben Wochen. Der Regensburger Künstler hat fertiggebracht, was vor ihm noch keiner geschafft hat: Er hat sämtliche vier Etagen des Leeren Beutels mit seinen Zeichnungen und Gemälden vollgehängt. Selbst Reiner Meyer, derLeiter der Städtischen Galeriein dem hochgiebeligen Kulturschuppen, hat beim Versuch, all die ausgestellten Zeichnungen und Gemälde zu zählen, kapituliert: Es geht auf jeden Fall weit in den vierstelligen Bereich.

Da ist in der Hauptsache die „Wunderkammer Gohl“, die große Retrospektive in der Städtischen Galerie. Das ist der reine Gohl, von den Monumentalgemälden und großen Serien im ersten über die Galerieformate im zweiten bis zum grafischen Werk im dritten Stock. Weil das so einem Berserker wie Gohl aber erstens nicht reicht und weil Gohl zweitens als Künstler nicht nur ein Einzelkämpfer, sondern auch ein „animal sociale“ ist, kommt im Restaurant und im Saal im Erdgeschoss noch die Ausstellung des Künstlertrios „Obacht“ hinzu. Das heißt: allein im Restaurant hundert Bleistiftzeichnungen, im Saal zwei dutzend weitere großformatige „Obacht“-Werke, die Erich Gohl zusammenmit Andreas Hanauerund Clemens Matejka simultan geschaffen hat.

So viel zur schieren Quantität, von der auch Gohl-Kenner schlicht geplättet sind. Aber erst die Qualität. Hier tobt sich ein radikaler, rücksichtsloser Künstler aus, ein Meister des Bleistifts, des Buntstifts, der Tusche, der Radierung, des Siebdrucks, der Frottage, der Hinterglasmalerei, des Acryl- und des Ölgemäldes – und noch eines guten Dutzends weiterer Techniken.

Zu sagen, dass Erich Gohl vornehmlich figürlich zeichnet und malt, wäre eine pedantische Plattitüde. Seine Figuren führen einen barocken Veitstanz auf, der jederzeit ins Irreale, ins Surreale, ins Absurde und ins Abstrakte kippen kann. Gern legt Gohl bei den Leibern, die er malt, die Muskelstränge bloß; Seziermesser und Skalpell gehören genauso zu seinem Werkzeug wie Feder und Pinsel. Auf den ersten Blick mag man sich manchmal in Gunther von Hagens’ „Körperwelten“ wähnen.

Doch Gohl war erstens früher dran; wenn, dann ist Hagens der platte Plagiator. Zweitens dreht sich bei Gohl alles um Pracht und Elend des Menschenkörpers: Das „memento mori“ und das „ecce homo“ sind in jedem Gohl-Bild präsent. Darüber hinaus haben diese Bilder eine subversive, anarchische, kommunistische Kraft, die anklagt, sich lustig macht, karikiert, parodiert.

Da ist „Barbie“, poppig und großformatig in Öl: das blonde Püppchen, züchtig telefonierend am Sofa, unmittelbar daneben ein braunmassiges Fleischmonster – Amerika, wie es leibt und lebt. Klischees reizen Erich Gohl, er führt sie gnadenlos vor, rücksichtslos auch gegen sich selbst, wie man an der 18-teiligen Selbstporträtserie im 1. Stock sehr schön sieht: Gohl als Bauunternehmer, als Metzger, als Stammtischbruder, als Ganove. Und spätestens vor der „Parade der geschlagenen Kinder“, nackt und geschändet, begreift man, dass Erich Gohl ein radikaler Verteidiger der Menschen- und der Kinderrechte ist.

Erich Gohl:„Wunderkammer Gohl“:„Veitstanz“:
Jahrgang 1958, emeritierter Professor für Freie Kunst an der Hochschule AugsburgStädtische Galerie, bis 17. November; OBACHT (Gohl/Hanauer/Matejka), Restaurant Leerer Beutel, bis 9. NovemberBilder und Texte von Erich Gohl, 126 Seiten, 29 Euro

Umso bizarrer der dilettantische Versuch der Städtischen Galerie, sich von einer gezeichneten Bildergeschichte zu distanzieren, die davon erzählt, wie ein gehbehindertes Sintimädchen nur durch sexuelle Dienstleistungen an einem Beamten den Antrag auf neue Schuhe bewilligt bekommt (im 3. Stock). Mit dem fadenscheinigen Argument der Jugendgefährdung wurde die Bildergeschichte aus dem zur Ausstellung erschienenen Künstlerbuch verbannt. Man kann nur hoffen, dass die Zensur unliebsamer Kunst mit dem neuen Kulturreferenten endlich ein Ende hat.

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