Porträt
Gratwandern zwischen Musik und Abenteuer

Matze Brustmann aus Wolfratshausen stürzt sich mit dem Kajak Wasserfälle hinab und macht Songs für Balloon Pilot.

28.12.2019 | Stand 16.09.2023, 5:12 Uhr
Lena Sauerer
Matze Brustmann besitzt 13 Gitarren. Momentan hat er Gitarren-Kaufverbot, denn mehr passen nicht mehr in die Wohnung. Foto: Michael Neumann −Foto: Michael Neumann

Wenn Matze mit seinem Kajak auf die Abrisskante eines Wasserfalls zu paddelt, spürt er schon den Sog des Wassers. Dann muss er sein Paddel in den Strom halten, die Spannung kontrollieren und seinem Boot einen Impuls geben. Nicht zu flach, nicht zu steil, etwa im 45-Grad-Winkel oder etwas steiler. Er spannt die Muskeln, legt die Arme an, hält das Paddel fest in seinen Händen. Und dann fällt Matze.

Der gleiche Mann betritt mit seiner Gitarre und lässigen Jeans eine Bühne. Er setzt sich, zupft die Saiten, singt mit einer Stimme, die sich wie eine Decke um die Ohren legt. Er genießt es, auf der Bühne zu sein, das Adrenalin füttert seinen Körper. Sobald Matze von der Bühne steigt, ist das Gefühl weg, die Anspannung bleibt noch eine Weile.

„Es gibt nichts, was für mich normaler ist, als diese Sachen.“

Das Kajak klatscht auf die Wasseroberfläche. Was Matze auf der Bühne spürt, durchströmt ihn auch, wenn der Fall vorbei ist. Alles fällt ab, „das komplette Glück öffnet sich und du bist ganz leicht“. Bei so einem Sprung aus 25 Metern kann einiges schieflaufen. „Kommst du zu flach auf, brichst du dir den Rücken“, sagt Matze.

Abenteuer und Melancholie, Gefahr und Sicherheit liegen bei Matze Brustmann nah beieinander. Obwohl er, Extrempaddler, Freeride-Skifahrer und eben auch Musiker, die Gefahr nicht so erfasst, wie das wohl Menschen tun, die ihn bei seinen Sprüngen beobachten. „Es gibt nichts, was für mich normaler ist, als diese Sachen.“ Matze ist mit der Gefahr aufgewachsen. Schon als kleiner Junge, mit sieben Jahren, kommt er zu den Naturfreunden Wolfratshausen – ein Verein im Heimatort. Sein Onkel ist dort Vorstand. Schon damals gibt es eine sehr aktive Kajak-Abteilung. Irgendwann beschließen Matze und seine Freunde: „Wir wollen Profi-Kajak-Fahrer werden.“ Selbst die Sache in Neuseeland hält ihn nicht davon ab.

Obwohl mittlerweile ein paar graue Strähnen seinen dunklen Vollbart durchziehen, ist Matze mit 40 Jahren derselbe wie schon immer: Musiker und Sportler. Er hat sich nie entschieden. Und in Matze Brustmanns Leben gibt es auch keinen, der sagt: Du musst dich mal entscheiden. Nicht seine Frau Karin, nicht seine Eltern. „Die haben mich eigentlich immer bestärkt“, sagt er und zupft an seinem grauen Käppi. In der Schule tut sich Matze als Kind aber schwer, weil sein Fokus immer auf den anderen Dingen liegt. Auf dem Sport und der Musik.

Für Matze waren Melodien schon immer da

Matze Brustmann wächst in einer musikalischen Familie auf, daheim liegen Instrumente rum, die er schon mit drei oder vier Jahren in die Hand nimmt. Mit sechs lernt Matze Trompete – der letzte Musikunterricht in seinem Leben. Er sei mehr so der Autodidakt, sagt er. Gitarre bringt er sich selbst bei. Und wenn es Lehrer gab, dann seinen Papa und Paul Simon.

Jetzt gerade, Mitte Dezember, hat Matze viel zu tun. Am 10. Januar erscheint das neue Album „Blankets“ seiner Band Balloon Pilot beim Münchner Label Millaphon. Drei Jahre sind seit dem letzten Album „Eleven Crooked Things“ vergangen. Das ist eine lange Zeit, aber schon ganz ordentlich für eine Band, die verstreut in Deutschland lebt. Der Andi (Andreas Haberl) und der Tobi (Tobias Koark-Haberl) müssen für Aufnahmen und Konzerte immer erst nach Oberbayern kommen und der Benni (Benni Schäfer) hat mittlerweile so viel anderes zu tun, dass die Band nun einen neuen Bassisten hat: Jacob Foord. Nur der Radi (Christian Radojewski) und eben der Matze sind im Süden geblieben.

Was die Jungs zusammenhält, ist, dass sie aus derselben Ecke kommen. Ihre erste Band ist eher punkig: „Mit 14 Jahren muss man halt mal kurz auf die Kacke hauen.“ Danach kommen Ska-Einflüsse dazu und dazwischen schon immer Songwriter-Sachen von Matze. Damals heißt die Band noch nicht Balloon Pilot und damals ist auch die Sache mit dem Kajak in Neuseeland noch nicht passiert.

Nach der Schule macht Matze eine Ausbildung zum Schreiner. Er arbeitet gern mit Holz, will aber nicht in einen Betrieb. Mit 18, 19 Jahren ist das Kajakfahren sein großes Ding und den gleichen Job ein Leben lang, das könnte er sich sowieso nicht vorstellen. In dieser Phase ist Matze viel unterwegs, macht Filmprojekte, trainiert für Wettkämpfe. Zwischen 1997 und 2004 nimmt er an drei Welt- und drei Europameisterschaften im Kajak teil. Er wird einer der Besten in seinem Sport.

„In einer Minute hast du die Zeit deines Lebens und eine Minute später hat sich die Welt so umgekrempelt, dass du es nicht greifen kannst.“

Im Jahr 2000 dann der Cut: Er paddelt mit vier anderen in Neuseeland den Nevis River, ein Fluss in der Nähe von Queenstown. Sein Cousin Günter wird in eine Felsspalte gezogen, klemmt unter Wasser fest und ertrinkt. „In einer Minute hast du die Zeit deines Lebens und eine Minute später hat sich die Welt so umgekrempelt, dass du es nicht greifen kannst.“ Damals ist Matze 21 und was folgt, ist eine „beschissene Zeit“. Er muss sich dafür rechtfertigen, dass er das, was er liebt, trotz des Unfalls weitermachen will. Mit dem Abstand von fast 20 Jahren und viel mehr Lebenserfahrung weiß er heute: „Die meisten sterben doch an anderen Sachen. Es gibt viele Arten zu sterben.“

Der Unfall hinterlässt seine Spuren, auch in der Musik. Sie kommt nicht mehr so unbelastet aus ihm heraus. Der Unfall in Neuseeland bleibt. Im Song „What Happened“, ein Stück auf dem neuen Album, beschreibt Matze den Weg aus der Schlucht.

Der eigene Stolz und die Elemente

Momentan hat Matze Brustmann nicht mehr so großen Appetit auf die ganz extremen Sachen. Die Expeditionen, die ihn noch reizen würden, bräuchten zu viel Vorbereitung – etwa der Fluss Tsangpo in Tibet. Nach über 30 Jahren im Sport hat Matze ein bisschen seinen Frieden gefunden und verstanden, dass sein Körper – vor allem der Rücken – nicht mehr das Gleiche verträgt wie früher. Man müsse ehrlich zu sich selber sein, dürfe den eigenen Stolz gegenüber den Elementen nicht verteidigen.

Ehrlich, das ist Matze Brustmann. Und bescheiden. Seine Musik klingt auch so. Er selbst wünscht sich, dass sie sich so anhört, als würde sie einfach passieren. So wie bei den Großen – Elliott Smith oder Tom Waits. Bei „Blankets“ war das auch ein bisschen so. Nur zehn Tage hatte die Band für die Aufnahmen. Alle Instrumente warfen sie in den großen Raum einer alten Schmiede weit ab vom Schuss irgendwo in Niederbayern. „Ein guter Platz, um sich so ein bisschen einzugraben und keine weiteren Reize zu haben“, sagt Matze. Entstanden ist ein Album, das sich ganzheitlicher und kompakter anhört als die Musik von vorher – trotzdem noch melancholisch und träumerisch. Der Titel „Light Headed“ beschreibt das ganz gut: Matze fragt sich, ob die Moral noch Gültigkeit hat; und während er Luftblasen im Kopf hat, ist das Gegenüber zugepflastert.

Seiner Musik will Matze Brustmann kein Etikett geben, denn dann würde er sich bei den Leuten in eine Schublade legen. Denn: Was für den einen Indiefolk ist, ist für eine andere Person etwas ganz anderes. Matze sagt deshalb, Balloon Pilot mache „Art Rock“, „der Begriff ist so schön diffus, dass sich niemand etwas darunter vorstellen kann“. Wer wissen will, wie Balloon Pilot klingt, solle sich eben die Platte anhören und entscheiden.

Selbstbestimmt leben, das ist Matzes Traum: „Ich weiß, was ich machen will, und da schätz’ ich mich glücklich, denn viele Leute wissen’s offenbar nicht“, sagt er. Das Kajakfahren und die Musik würden sich perfekt ergänzen. Beide seien Ventile: Man könne alle möglichen Sachen loswerden und gleichzeitig andere aufnehmen. Nicht selten passiert es, dass ihm Melodien für seine Songs beim Paddeln einfallen – zum Beispiel in den Kaskaden des türkisblauen Agua Azul oder in den Stromschnellen des Santo Domingo in Mexiko.

„Ich bin mir schon im Klaren darüber, dass ich manchmal renn’, aber ich hab’ auch noch keinen Grund dafür gefunden, das zu ändern.“

Texten findet er schwerer. „Gute Texte sind etwas, das nicht so leicht passiert“, sagt Matze. Meist fällt ihm ein Gedanke ein und dann schreibt er drum herum. Es mag sein, dass in den Worten dann etwas von Matzes Leben steckt. Zum Beispiel in der ersten Single „Blankets Over Blankets“. Da geht es um Decken, die zwar warmhalten, aber einen auch irgendwie erdrücken und festhalten. Matze sagt: Er versuche weniger, etwas aus dem Leben zu greifen, als Stimmungen zu transportieren. Seine Songs hätten keine Agenda, seien so vage, dass jeder etwas darin finden könne.

Wenn Matze das Gefühl hat, sein Leben ist zu ruhig, dann macht er was Neues. Er kann einfach nicht stillhalten. „Ich bin mir schon im Klaren darüber, dass ich manchmal renn’, aber ich hab’ auch noch keinen Grund dafür gefunden, das zu ändern.“ Sobald er das sagt, stockt er kurz. Vor knapp einem Jahr ist er Vater geworden und er gibt zu: Seine Tochter Selma bringe schon ein paar Sachen durcheinander. Vieles laufe jetzt einfach anders, als er das gewohnt sei. Er freut sich darauf, ihr das Kajakfahren beizubringen.

Matze lebt in einer Wohnung auf einem Bauernhof in Münsing zwischen Starnberg und Wolfratshausen. Unter einem Holzverdeck vor dem Haus liegen zwei Kajaks, ein anderes fährt auf dem Autodach mit. In den Zimmern sammeln sich die Gitarren, jede Ecke habe mittlerweile eine. Die Musik und das Kajakfahren, keine der beiden Sachen könnte Matze Brustmann aufgeben: „Es ist tatsächlich so: Willst du dir das linke oder rechte Bein abschneiden?“ Er würde die Entscheidung nicht treffen – mit dem Risiko, dass er an beidem scheitert.

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