Festspiele Im neuen „Ring“ in Bayreuth: Kinder sind der größte Schatz

Bayreuth.Er wird doch nicht allen Ernstes... Dass der 33-jährige österreichische Regisseur Valentin Schwarz beabsichtigt, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen jede Metaphysik auszutreiben, hatte er im Interview mit unserer Zeitung erläutert: keine Götter, keine Zwerge, keine Riesen, kein magischer Ring. Darum die Schrecksekunde im Publikum, als die Rheintöchter in der ersten Szene Alberich am Swimmingpool mit einem Rettungs-Ring (!) necken.
Wagners Ring ein Schwimmreifen – soll es gar so banal werden? Wird es nicht. Dafür kennt und verehrt Valentin Schwarz Wagner zu sehr. Er triezt uns nur ein bisschen – und verleiht dem Opernvierteiler in der ersten halben Stunde seine eigene Prägung.
Die zentrale Idee darin: Was hier im Bayreuther „Ring" 2022 aus den Tiefen des Rheins geraubt wird, der größte, mächtigste Schatz auf Erden, der Inbegriff aller Sehnsüchte, das ist: ein Kind.
Alberichs Reich ist eine Kita
„Kinder sind unser größtes Kapital“, heißt es oft. Das Bayreuther „Rheingold“ nimmt den Satz auf grausige Art wörtlich: Der Ring ist ein Junge von knapp zehn Jahren mit Baseballkappe und Kapuzenpulli. Mit vorgehaltener Pistole wird er im Schwimmbad entführt von Zwerg Alberich, den Regisseur Schwarz im einleitenden Video von Luis August Krawen zum Zwillingsbruder des Gottes Wotan erklärt. Im ersten Bild schon eliminiert die Regie damit Wagners Setzungen von Stand und Spezies – hier sind alle gleich, gleich menschlich, gleich übel. Wie Wotan sein Auge verlor? Der Bruder kratzte es ihm aus, im Mutterleib.
Das Kind als Schatz hat Konsequenzen, die zunächst verstören: Alberichs Reich Nibelheim ist damit keine Goldmiene der Zwerge, sondern bonbonfarbene Kindertagesstätte (Bühne: Andrea Cozzi), wo entführte Kinder hochgezogen werden zu dem, was Wotan als Alberichs Armee fürchtet.
In der vierten Szene entfaltet Schwarz’ Deutung dann ihre ganze Wucht. Wenn Wotan Alberich in seiner Neureichen-Betonvilla den Schatz abpresst, um ihn an die Riesen zu geben, dann findet auf der Bühne blanker Menschenhandel statt. Was tun diese Männer mit den Kindern, die sie in den Kofferraum ihres schwarzen SUV stoßen?
Das ist der Punkt, an dem diese Neuinszenierung existenzielle Dringlichkeit gewinnt. Und an dem sich Schwarz’ Werkkenntnis und Lust an Querverweisen zeigt: Erda rettet eines dieser Kinder, es ist wohl ihr eigenes – wie wir aus der „Walküre“ wissen, hat Wotan mit ihr die Walküre Brünnhilde gezeugt. Der Kinderraub erklärt auch, woher Alberich, der doch der Minne entsagt, zum Sohn Hagen kommt, der in der „Götterdämmerung“ die finale Intrige spinnt.
So sehr die Umdeutung des „Ring“ fruchtet, so unbefriedigend bleibt zunächst die Idee, die Tetralogie als Familienepos in vier Episoden zu zeigen, Schwarz spricht gern von „Netflix“, von den vier Opern in einer Woche als „Bidge-Watching“. Doch es wird wahnsinnig viel herumgestanden und mit Revolvern gefuchtelt in dieser Göttervilla, das ist langatmig und oft gesehen, eine Clan-Geschichte wie tausend andere. Netflix gibt es schon zu Hause, warum sollte ich nach Bayreuth fahren, um Dasselbe zu sehen?
Ein zweites Problem der Regie ist, dass die emotionale Aussage der Musik oft im krassen Gegensatz zur Trivialität des Bühnengeschehens steht. Das Orchester öffnet den Weg über die Regenbogenbrücke zur Götterburg – auf der Bühne geht Wotan im Sommeranzug die Sichtbetontreppe hoch.
Ob die Sippen-Story am Ende trägt, wissen wir am Freitagabend, wenn der „Ring“ vollendet ist. Bis dahin hat Dirigent Cornelius Meister Gelegenheit, am Klang zu arbeiten. Der Stuttgarter Generalmusikdirektor hat diese Produktion gerettet, nachdem Pietari Inkinen wegen Corona ausgefallen war. Dem Bayreuth-Debütanten gebührt Nachsicht und Dankbarkeit. Lässt man die Notsituation beiseite, bleibt festzustellen, dass seine Leitung im Orchester über weite Strecken kein Feuer entfacht. Die Oper fließt seltsam leise vor sich hin. Wo sind die großen Crescendi, die Ausbrüche, wo ist das Innehalten an zentralen Positionen? Oft klingt das, als läge ein zweiter Deckel auf dem Bayreuther Orchestergraben.
Der Cliffhanger funktioniert
Unter den Sängern ragen Okka von der Damerau als Erda und Olafur Sigurdarson als Alberich heraus. Erstere bringt mit ihrem strömenden Mezzo schlagartig Größe, Tiefe, Autorität und mütterliche Zartheit in die Oper. Zweiter schlägt mit kompromisslos hartem Bariton und großer Schauspielleistung den Bogen vom gedemütigten Zausel im Schwimmbad über den Kindesentführer zum gebrochenen Mann. Der Premieren-Applaus wird hier zum stadionartigen Tumult.
Zugleich wird kräftig gebuht, als sich der Vorhang schließt – damit ist wohl das Regieteam gemeint, das sich erst nach den kompletten 16 Stunden des „Ring“ der Volksabstimmung stellen wird.
Ein erstes Versprechen hat Valentin Schwarz eingelöst: Der Cliffhanger ist gelungen. Das Publikum will wissen, wie es weitergeht. Ist Siegmund wirklich im Wald aufgewachsen? Wird Brünnhilde auf einen Fels verbannt? Sehr unwahrscheinlich.
Bayreuth im Live-Blog: Raimund Meisenberger, Leiter der Kulturredaktion der Passauer Neuen Presse, begleitet diese Woche den „Ring“ in Bayreuth auch im Live-Blog.
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