Musiktipp
Kae Tempest zelebriert das Loslassen

Das neue Album von Kae Tempest „The Line Is a Curve“ spiegelt das Ringen um Einheit, Liebe und Identität wieder.

08.04.2022 | Stand 12.10.2023, 10:02 Uhr
Angelika Sauerer
Kae Tempest −Foto: Wolfgang Tillmanns

Es ist, als strebe alles in Kae Tempests Leben und Kunst nach der Einheit von Einerseits und Andererseits, von Fallen und Halten, von Materie und Antimaterie. Ein Prozess, der dauert und auch schmerzt, das Ringen um Liebe und Identität befeuert das künstlerische Schaffen. Kae legte den Name Kate nach dem Outing als nicht-binär ab und wurde damit zum Wesen aus Körper und Seele, Mann und Frau. „The Line Is a Curve“ heißt das neue, beeindruckende Album, und auch das stimmt: Alles steckt in allem – die gerade Linie in der Kurve, nichts ist, wie es scheint. Und nie zuvor passte der Begriff „Lyrics“ besser zum Shakespeare-haften Sog von Kaes Worten gebettet auf Melodie. Kae sagt, das Album habe „ein schönes Herz“ und basiere „ auf einem Gefühl der Liebe“. Im wunderschöne Song „Grace“, dem letzten von insgesamt zwölf Stücken, ganz besonders.

Kae Tempest stammt aus Lewisham (South London), schreibt, komponiert, rappt. Die ersten zwei Soloalben „Everybody Down“ (2014) und „Let Them Eat Chaos“ (2017) wurden jeweils für einen Mercury Prize nominiert. Das zuletzt erschienene dritte Album „The Book of Traps and Lessons“ (2019) landete auf der Shortlist für einen Ivor Novello Award (Kategorie „Best Album“). Parallel zur Musik hat Kae Tempest eine Reihe von Gedichtbänden veröffentlicht sowie den Roman-Bestseller „The Bricks That Built the Houses“ (2017; Deutsch: „Worauf du dich verlassen kannst“) und den buchlangen Essay „On Connection“ (2020; Deutsch: „Verbundensein“) vorgelegt. Tempests Theaterstück „Paradise“ (2021) feierte im National Theatre von London Premiere. „The Line Is a Curve (2022) ist das vierte Studioalbum.

Zum ersten Mal wollte Kae Tempest ihr Gesicht auf dem Cover haben. „So lange ich kreativ bin, sehne ich mich nach dem Rampenlicht – und fühle mich hoffnungslos unwohl darin“, erklärt Kae. Das Werk sollte wirken, nicht die Person, das war bisher die Devise. „Dieses Mal jedoch sehe ich das anders. Ich möchte, dass sich die Leute zu diesem Album eingeladen fühlen: von mir persönlich empfangen, von dem Menschen also, der es gemacht hat.“ Kae habe das Gefühl, jetzt mehr Bodenhaftung zu haben und genauer zu wissen, „was ich verfolge, wer ich bin, als Künstler:in und als Mensch“. Kae empfinde weniger Scham als zuvor. „Ich wollte mein Gesicht zeigen – und mein Traum war es, dass Wolfgang Tillmans das Porträt fotografiert.“ Der deutsche Fotograf und Künstler lebt in Berlin und London lebt und beeindruckte Kae mit der Kunst, das Unsichtbare in seinen Bildern mit abzubilden. Im Einfangen und Ausdrücken des Unaussprechlichen, dessen, was zwischen den Zeilen liegt und klingt, treffen sich die beiden auf einer Wellenlänge. „Ich glaube nicht, dass mich je zuvor ein Mensch so mit der Kamera eingefangen hat, wie er es geschafft hat. Ich finde, die Verletzlichkeit und die Stärke des Cover-Porträts unterstreichen die Themen, die dieses Album umkreist.“ Das Bild zeigt auch, wie die Musik klingt.

Der Song „Salt Coast“ im Video:

Das Album „The Line Is a Curve“ ist bei Fiction/Virgin Music erschienen; CD ca. 18 Euro.