Kultur
Wohnungsnot verdirbt den Charakter Eine Satire im Theater Regensburg

14.11.2022 | Stand 15.09.2023, 2:55 Uhr
Michael Scheiner
Eine bonbonbunte Plastikwelt mit Menschen in roboterhaften Masken: Lena (rechts, Lilly-Marie Vogler) in einer Szene mit Katharina Solzbacher und Joscha Eißen: „Gentrifizier dich!“ läuft im Theater am Haidplatz. −Foto: Tom Neumeier

„Gentrifizier dich!“: Lena verliert erst die Bleibe, dann die Moral. Das Stück illustriert grell und eindrücklich, was Wohnungsnot mit Menschen macht.

Die Satire hatte in Regensburg UraufführungHätte sie sich nur um einen Job beim Bau von „400000 neuen, bezahlbaren und klimaneutralen Wohnungen“ beworben, wie ihn die Bundesbauministerin Klara Geywitz angekündigt hat: Die gut gelaunte Lena Zimmermann (Lilly-Marie Vogler) hätte ihren sozialen Abstieg wahrscheinlich vermeiden können, auch ihre zeitweilige Obdachlosigkeit (sie sei „wohnungssuchend“, betont sie dagegen verzweifelt) und auch ihre moralische Verwüstung.

Als euphorische Ex-Studentin und Ex-Praktikantin, die im ersten befristeten Job „irgendwas mit Medien macht“ und für jeden Problemfall ein offenes Ohr hat, ist Lenas Niedergang praktisch vorprogrammiert.

Auf der Abstiegsleiter

Getreu ihrem Gutmensch-Motto „Gutes kommt zu dir zurück“ rettet Lena erst mal dem suizidgefährdeten Matthias (Joscha Eißen) das Leben. In „Gentrifizier dich!“, einer bösen Satire mit bitterem Ende von Carla Niewöhner, ist Matthias das erste Opfer einer Verrohung des Wohnungsmarkts in der Welterbestadt, die immer tiefere soziale und moralische Wunden schlägt. Exemplarisch ist die Stufenleiter des Abstiegs, die das Stück erzählt und die man so auch in der Regensburger Realität finden kann: Wohnung verloren, Arbeit verloren, Freundin verloren.

Das lebenslustige Landei Lena sonnt sich zunächst im Erfolg, der sie bei Kollegen in der Agentur, bei Partys und bei den Nachbarn beliebt macht. Dann beginnt das Umfeld zu bröckeln. Kioskbesitzer Murat (Katharina Solzbacher) bekommt Konkurrenz durch Schickimicki-Cafés und muss irgendwann aufgeben. Auch der sympathische Künstler verschwindet mit seiner Pop-up-Galerie wieder. Lena selbst kommt nach einer saftigen Mieterhöhung mit den Zahlungen in Verzug, die Katastrophe klopft an die Tür ihres schnuckeligen Apartments. Wohnungslos geworden, beginnt für die anfänglich noch zuversichtliche junge Frau ein Trip, der zunehmend zum Horror wird. Sie kommt bei Freunden unter, zieht von Couch zu Couch, steht bei skrupellosen Vermietern zur Wohnungsbesichtigung Schlange, wappnet sich für Vorstellungsgespräche bei pingeligen oder ätzenden WG-Zimmer-Vermietern. Zunächst versucht sie noch, den Kopf mit Selbstbetrug über Wasser zu halten, dann beginnt sie zu lügen, zu betrügen, zu klauen.

Regisseur Juli Paul Bökamp ist – in einem heiter-trivialen Playmobil-Ambiente, in der pfiffigen Ausstattung von Katharina Grof – eine originelle, krass zugespitzte Inszenierung gelungen, in der der Zuschauer irrwitzig komische und groteske Szenen erlebt. Die bonbonbunte Plastikwelt, durch die Vicky Leandros’ ihren Schlager „Ich liebe das Leben“ trällert, wirkt trotz der maskierten Robotermenschen harmlos und aufgeräumt. Wie die Welt eben, als alles noch in Ordnung war – und nach der sich aktuell viele Menschen (zurück-)sehnen.

Der Zerfall von Lenas äußerer und innerer Welt lässt sich wunderbar ablesen an ihrer Mimik, ihrer hektischer werdenden Internetsuche, ihren Telefonaten, in denen sie Eltern beschwichtigt und Vermieter anschleimt. Zuletzt trägt auch sie – in der neuen alten Regensburger Wohnung – eine Gesichtsmaske, die sie zum moralisch entleerten Mietzombie macht.

Lena zahlt einen hohen Preis

Lena zahlt den unmenschlich hohen Preis für eine Wohnungssituation, die das Grundrecht auf Wohnen den kapitalistischen Verwertungsinteressen untergeordnet hat. Die Interessen und die Lebenslage des Einzelnen sind nur insoweit von Belang, wie die Höhe des Monatseinkommens es zulässt. Diese Haltung hat längst auch dort Einzug gehalten, wo man einst die Alternative zum bürgerlichen Leben verortete.

Der Abstieg in die Hölle neoliberaler Gefühlskälte und ausschließlicher Ich-Bezogenheit steht im Mittelpunkt des parabelhaften Stücks. Gesellschaftliche und ökonomische Zusammenhänge und Hintergründe geraten aus dem Blick. Solidarisches Verhalten und ein offener und zugewandter Umgang miteinander kommen nur in Mikrodosen vor. Offen bleibt die Frage: Kann man daraus Lehren für das Zusammenleben in der Welterbestadt ziehen?