Erzählungen von Clemens Pongratz
Als jüdisches Mädchen den Nazis entkommen: Über das Schicksal der „Kirschner Susi“ aus Kötzting

04.02.2025 |

Passfoto von Susanne Kirschner im November 1939 – mit knapp zwölf Jahren Foto: Staatsarchiv München

Die Familienforscher im Landkreis Cham der Gesellschaft für Familienforschung in der Oberpfalz (GFO) trafen sich turnusgemäß am letzten Samstag in der Klostermühle Altenmarkt. Begrüßt wurde dazu als Referent der jahrzehntelange Historiker, Heimatforscher, Autor, Genealoge, Mitbegründer des „Arbeitskreises Heimatforschung und Bad Kötztinger Stadtarchivar Clemens Pongratz aus Sinzing.

 

  

Das Thema seines Vortrags war „Die Auswanderung eines kleinen jüdischen Mädchens“. Pongratz erzählte mit fundiertem Wissen vom Leben des Kötztinger Mädchens Susanne Kirschner und dem traurigen Schicksal ihrer Familie. Viele Mitglieder dieser Familie fielen dem Naziterror zum Opfer.

Das Schicksal und das Leben der Kötztinger jüdischen Familien ist laut Pongratz so komplex und mit so vielen Ereignissen in Bad Kötzting verbunden, dass er sich seit Jahren diesem Thema intensiv und breitgefächert widme. Im Zuge der Recherche traten so viele überraschende Details zutage, die sich nicht alleine auf die „Kirschner Susi“ bezogen, sondern auch auf ihren jüngeren Bruder Alfred und ihre Cousins, dass es den Überblick erleichterte, den Bogen größer zu spannen.


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Susanne Kirschner wurde am 22. November 1927 geboren. Sie war die Tochter von Alice (geborene Klein, aus einer begüterten Tirschenreuther Kaufmannsfamilie) und Julius Kirschner, genannt „Kirschner Juler“, einem in den 1920er Jahren hochgeachteten Kötztinger Bürger. Die Familie war beliebt und sehr gut in der Kötztinger Bürgerschaft integriert. Der „Kirschner Juler“ hatte das Kaufmannsgeschäft (Lebensmittel, Kleidung, Leder, Pelze) von Vater Moritz Kirschner übernommen, war geschäftstüchtig und Mitbegründer sowie zuverlässiger Geldgeber für den FC Kötzting. Julius Kirschner hatte bereits im März 1933 unter unwürdigen Bedingungen den Vorsitz des FC Kötzting abgeben müssen.

Familie hatte eine „offene Hand und ein offenes Herz“

 Paula Dittrich beschreibt in einem ihrer Bücher „Erinnerungen an die, denen Kötzting Heimat war wie uns“ die Kirschners als eine Familie, die „...eine offene Hand und ein offenes Herz hatte. Schulkinder fanden im Hof einen allezeit und für alle zugänglichen Spielplatz, und für manchen, dem der Schulweg zu weit und die Mittagspause deshalb zum Heimgehen zu kurz war, gab es eine warme Mahlzeit. Wenn ein schmächtiges Bübl einen Hasenbalg oder ein Katzenfell zum alten Kirschner brachte, der auch Häute aufkaufte, so bekam er immer um ein paar Zehnerl mehr dafür als einer, der’s nicht so nötig hatte.“
 Susanne Kirschner ging in Kötzting zur Schule und musste in sehr jungen Jahren alle staatlichen Formen der Diskriminierung miterleben. Sie musste erleben, dass die lokale SA vor dem Geschäft ihres Vaters Posten stand, um zu verhindern, dass Kötztinger Kunden das Geschäft betraten.

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In zeitlichem Zusammenhang mit den Ausschreitungen bei der Reichsprogromnacht im November 1938 wurden die beiden Kötztinger Geschäftsinhaber Kirschner und Hahn, die wenige Tage vorher verhaftet worden waren, aus Dachau antransportiert und mussten die Verkaufsurkunden für ihre Häuser unterschreiben.
 Aus dem eigenen Haus vertrieben, fand die Familie Kirschner Unterkunft im oberen Markt. Es war hier der glückliche Umstand, dass es zwischen den benachbarten Häusern Schrödel und Kirschner Kontaktmöglichkeiten gab, die von der Straßenseite her nicht kontrolliert werden konnten.

In Soribor ermordet

Im Frühjahr 1939 stellte der Vater einen Auswanderungsantrag. Es herrschte wohl innerhalb der Juden in Deutschland die Meinung vor, dass die Nazis nicht hart gegen Frauen und Kinder vorgehen würden. Deshalb sei es nur für Männer nötig, ihr Leben zu retten und außer Landes zu kommen. Alice Kirschner und ihr Sohn Alfred blieben unter diesen falschen Voraussetzungen in Deutschland und wurden Jahre später in Sobibor ermordet.
 Die Eintragungen mit den nachträglichen handschriftlichen Ergänzungen lassen das Schicksal der Familienmitglieder deutlich werden: Susanne und Alfred wurden offensichtlich mit Datum 8. Juli 1939 nach München abgemeldet, während die Eltern erst zum 20. Juli als „nach Regensburg verzogen“ vermerkt sind.
 Susanne und ihr Vater versuchten unabhängig voneinander, nach Palästina zu entkommen, während Alfred mit seiner Mutter vereint wurde und sich beide längere Zeit in Berlin aufhielten, bevor sie im Vernichtungslager Sobibor ermordet worden waren. Bei der Mutter ist ein Todesdatum vom 8. Mai 1945 vermerkt, dem Tag des Kriegsendes.
 

In Waisenhaus gelebt

Pongratz zeigte auf, dass Susanne im November 1939 in einem Waisenhaus in München lebte. Die oberbayerischen „Judenakten“ wurden bei der Polizeidirektion München gesammelt, und dort wurde auch ein Akt für ihren Auswanderungsantrag angelegt.
 Die Empfangsbestätigung für ihren Pass, den sie für die Einwanderung nach Palästina brauchte, unterschrieb sie mit „Susi Kirschner“. Danach wurde sie offensichtlich darauf aufmerksam gemacht, dass das nicht mehr ihr richtiger Name war. Seit 1. Januar 1939 bekamen alle Menschen jüdischer Abstammung in Deutschland durch Gesetz neben dem Judenstern auch noch einen verpflichteten Namenszusatz aufgedrückt. Susanne Theresia Kirschner hieß ab dem Zeitpunkt verpflichtend Susanne Sara Theresia Kirschner und hatte diesen Zusatznamen immer zu verwenden.
 Die Jewish Agency for Palestine erteilte auf Antrag der Familie Klein (Alices Bruders Ludwig Klein, der bereits in den 1920er Jahren nach Palästina auswanderte und lebenswichtige Anlaufstelle für die wenigen Familienmitglieder war, die es lebend nach Palästina geschafft hatten) eine Einwanderungs-Erlaubnis für Palästina. Dazu benötigte Susanne einen Pass. Dieser wurde am 1. Dezember 1939 genehmigt, und der Bleistiftvermerk sagte aus: Sichtvermerk am 1. Dezember 1939 nach Palästina zur einmaligen Ausreise bis zum 31. Dezember 1939.
 Nun begannen die Mühlen er deutschen Bürokratie zu mahlen: Bei der Stellungnahme der Devisenüberwachungsstelle hieß es lapidar: Ist erst elf Jahre alt. Auch von der Auswanderungsstelle, der israelitischen Kultusgemeinde, vom Einziehungsamt, vom Finanzamt und von der NSDAP waren Bestätigungen einzuholen. Auf die Ausstellung einer Unbedenklichkeits-Bescheinigung von Seiten der Gestapo wurde verzichtet. So entkam Susanne Kirschner aus Kötzting im Dezember 1939 den Nazi-Schergen.

Zum Thema

Clemens Pongratz erläuterte den Familienforschern anhand der jahrelang gesammelten Unterlagen den weiteren Weg der einzelnen Mitglieder der Familie Kirschner. Er zeigte auch ausführlich die überraschenden Hilfestellungen via Facebook und den unkomplizierten internationalen Austausch unter Familienforschern auf – unter anderem durch den „Rechercheverbund“ in Israel, den USA und Deutschland.

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