Kilian Graef, 19, ist Eisschwimmer. Im Engadin startete der amtierende Staffel-Weltmeister aus Regensburg die Vorbereitung auf die WM im Januar 2025. 150 Kilometer vom Austragungsort Molveno (Italien) entfernt, trainierte unser Autor in vier verschiedenen Seen, die durch den Maler Giovanni Segantini weltberühmt wurden.
Stazersee, 5:15 Minuten – Angst vor dem Wels
Noch 85 Tage bis zur WM. Stufe für Stufe klettere ich die hölzerne Leiter in den Stazersee. Zuerst berührt mein linker Fuß das Wasser, dann folgt das rechte Bein bis zum Knie. Mein Puls steigt, die Kälte schmerzt schon jetzt, als würden mich tausende Nadeln der umliegenden herbstlichen Lärchenpiksen. Mein Oberkörper gleitet in das braune Moorwasser. Ich stoße mich von einem Stein am Grund ab und beginne mit den ersten hektischen Zügen. Den Kopf behalte ich zunächst über Wasser. Der ist am kälteempfindlichsten.
Meine ersten Meter der neuen Eisschwimmsaison sind eines Eisschwimmers nicht würdig. Ich frage mich, ob ich knapp drei Monate vor meiner dritten Weltmeisterschaft den Umgang mit der Kälte verlernt habe. Dabei liegt die Temperatur des Stazersees an der oberen Grenze: fünf Grad Celsius – wärmer darf es bei Wettkämpfen gar nicht sein. Wir Eisschwimmer tragen Wettkämpfe bei null bis fünf Grad Wassertemperatur aus. Und schwimmen Distanzen zwischen 50 und 1000 Metern auf Zeit.
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Von der Königsdisziplin, den 1000 Metern, bin ich an diesem Montag weit entfernt. Als ich mich der Mitte des Sees nähere und meinen Kopf erstmals unter Wasser tauche, blicke ich ins schwarze Nichts. Die Sonnenstrahlen, die es 150 Millionen Kilometer weit bis zur Erde geschafft haben, scheitern daran, Licht in den dunklen Stazersee zu bringen. Ich bekomme Panik, dass mein Erzfeind aus der Fischwelt lauern und zur Attacke ansetzen könnte: Der Wels. Jeden Sommer lese ich mindestens einen Artikel über Schwimmer oder Hunde, die von den bis zu drei Meter langen Tieren angegriffen wurden. Dabei mögen Welse warme Gewässer und kommen hier im Engadin gar nicht vor. Dennoch werde ich meine Angst nicht los.
Nach 5 Minuten und 15 Sekunden
Ich bin nicht so mutig wie viele andere Eisschwimmer. Mein Staffelkollege Andreas Waschburger hat den Ärmelkanal in Weltrekordzeit durchschwommen, der erste deutsche Eisschwimm-Weltmeister Christof Wandratsch den Bodensee. Für die 64 Kilometer brauchte er knapp 21 Stunden.
Er ist eine ganze Nacht durchgeschwommen. Allen Welsen zum Trotz.
Nach 5 Minuten und 15 Sekunden erreiche ich unversehrt die Leiter. Während ich mich aus dem See ziehe, bemerke ich asiatische Touristen, die mein Abenteuer mitgefilmt haben. Womöglich bin ich, der bescheuerte Deutsche, inzwischen ein Social-Media-Star in Japan oder Korea, ohne es zu wissen.
Stazersee: Tiefe 4,7 Meter, Temperatur: 5 Grad, Sichtweite im Wasser: 0,2 Meter, Wasserfarbe: braun-schwarz, Begleiter: Blesshühner
St. Moritzersee, 5:48 Minuten – Glückshormone und gestärktes Immunsystem
Der nächste Morgen, noch 84 Tage bis zur WM. Ich freue mich auf den St. Moritzersee. Ich kann ihn von meinem Zimmer im Waldhaus am See aus sehen. Das Wasser wirkt kristallklar. Außerdem muss ich mir durch den kurzen Weg zwischen Hotel und Ufer keine Gedanken über das Aufwärmen nach dem Schwimmen machen. Meine Einstiegsstelle liegt an einer Holzbank, auf der sonst Spaziergänger ausruhen.
Ich ziehe mich aus und lege Baumwollhose, Skihose, T-Shirt, Pulli, zwei Jacken, Skisocken und meine Mütze so zurecht, dass ich nach dem Schwimmen keine Zeit beim Anziehen verliere.
In dieser Saison ist Vorsicht geboten
Im vergangenen Jahr war ich zu leichtsinnig, was derlei Vorsichtsmaßnahmen anging: Ich hatte mich nach dem Eisschwimmen selten dick genug und oft gar nicht richtig angezogen. Nach 11 Minuten bei 1,7 Grad Wassertemperatur bin ich einmal oberkörperfrei und in Badehose einen Kilometer mit dem Fahrrad nach Hause gefahren und habe mich anschließend in die heimische Eistonne gesetzt. Die Folge: Unterkühlungen – eine Woche vor den Europameisterschaften.
Mein Zustand war damals sowieso nicht gut. Alle drei Wochen wurde ich krank, weil ich nach Erkältungen nicht lang genug Pause machte. Diese Saison gehe ich deshalb übervorsichtig an. Denn Eisschwimmen ist, solange man sich nicht vom jugendlichen Leichtsinn treiben lässt, ein sicherer und gesunder Sport. Der Körper schüttet durch die Kälte Adrenalin und Glückshormone aus. Im richtigen Maß stärkt es das Immunsystem.
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Glückshormone durchfluten meinen Körper auch am St. Moritzersee, schon bevor ich im Wasser bin. Der See ist auf den ersten Blick klar. Nach wenigen Zügen verfliegt jedoch die Freude. Es geht so steil nach unten, dass ich trotz des sauberen Wassers nach ein paar Zügen ins dunkelblaue Nichts schaue. Da ich beim Blick in die Tiefe wieder an Welse denken muss, drehe ich mich um und schwimme Rücken. So kann ich wenigstens die Berge um mich herum bestaunen. Die Gipfel sind in mystische Nebelschwaden gehüllt. Skeptisch beobachtet mich ein Blesshuhn. In der Ferne trainiert ein Ruderer. Nach 5 Minuten und 48 Sekunden steige ich aus dem Wasser und lasse den beiden ihre Zweisamkeit auf dem See.
Sankt Moritzersee: Tiefe 44 Meter, Temperatur: 7,8 Grad, Sichtweite imWasser: 3 Meter, Tiefe: Wasserfarbe: blau, Begleiter: Blesshühner und Ruderer
Silvaplanersee, 5:30 Minuten – Seepferdchen verpasst
Bisher war das Engadiner Wetter gnädig zu mir. Tags darauf, am Silvaplanersee endet das Wetterglück. Es regnet. Nicht stark, aber die kalten Tropfen, die ungleichmäßig auf meine Haut prallen, sind unangenehm. Das Wetter spielt beim Eisschwimmen eine große Rolle, auch, wenn das für Außenstehende seltsam klingt. Richtig gefährlich wird es, wenn Eisschollen auf der Wasseroberfläche schwimmen. Bei einem Dreh mit dem Bayerischen Fernsehen vor zwei Jahren spürte ich wegen der Kälte nicht, dass ich mich an Eisschollen geschnitten hatte und stark blutete.
Im Silvaplanersee kann mir das heute nicht passieren. Auch der Zustieg scheint einfach. Eine Betonrampe neben einem Steg lacht mich an. Als ich mit den Füßen das acht Grad kalte Wasser berühre, denke ich jedoch kurz darüber nach, ob diese Einheit wirklich sein muss, zumal später noch ein weiterer See auf dem Tagesprogramm steht. Für Zweifel lässt mir die Betonrampe keine Zeit. Sie ist so glitschig, dass ich wie ein Boot zu Wasser rutsche.
Wo ist die orangenfarbene Rettungsboje?
Plötzlich schwimme ich wie gegen einen Widerstand. Irgendetwas zieht mich nach unten. Als Kind hatte ich anfangs Probleme beim Schwimmen. Ich hing wie ein Kartoffelsack im Nichtschwimmerbecken und setzte, wenn der Schwimmlehrer nicht hinschaute, die Füße auf den Beckenboden. Am Ende war ich eines von zwei Kindern, die ihr Seepferdchen verpassten.
Nach 50 Metern im Silvaplanersee bemerke ich, dass es mein Lebensretter ist, der mir das Schwimmen erschwert. Ich habe vergessen, meine orangenfarbene Rettungsboje, die ich immer hinter mir herziehe, aufzupusten. Früher habe ich sie gar nicht angeschnallt. Sie sieht unästhetisch aus und stört auch aufgeblasen beim Schwimmen. Außerdem ist mir noch nie etwas passiert und ich kenne auch niemanden, der die Boje je gebraucht hätte. Mittlerweile gehe ich aber auch hier auf Nummer sicher. Sollte ich doch mal einen Krampf bekommen, könnte mich ein Teamkollege aus dem Wasser ziehen. Oder die Bauarbeiter, die am Silvaplanersee ihre Arbeiten an der Kantonalstraße unterbrochen haben, um mir die gesamten fünfeinhalb Minuten, die ich im Wasser bleibe, zuzuschauen.
Silvaplanersee: Tiefe: 48 Meter, Temperatur: 8 Grad, Sichtweite im Wasser: 2,5 Meter, Wasserfarbe: hellblau, Begleiter: Blesshühner und Windsurfer
Silsersee, 9:13 Minuten – Krebsrote Haut
Eine Stunde später. Auf dem Weg über mehrere Äcker zwischen dem hoch über dem See thronenden Hotel Waldhaus Sils und der Halbinsel, auf der Friedrich Nietzsche einst philosophierte, wird mir warm. Zu warm. 15 Minuten lang marschiere ich mit Rucksack Richtung See. Etwa 200 Meter vom Ufer entfernt entdecke ich ein Schild, das davor warnt, den See zu betreten, wenn er zugefroren ist. Auch ein Rettungsring hängt da, für alle Fälle.
Kurz darauf habe ich das Schild erreicht und wate zum letzten Mal binnen der drei Trainingstage in einen Engadiner Bergsee. Das Ufer des Silsersees ist an dieser Stelle sehr flach, beinahe ein Strand. Und auch das Wasser ist traumhaft. Ich sehe auch noch den Grund, als ich bereits weit draußen schwimme. Er sieht aus wie eine Mondlandschaft. Ein paar Fische, aber kein Wels.
Wenn der Körper in den Energiesparmodus schaltet
Ich schwimme eine Pendelstrecke. Etwa eine Minute in Richtung Mitte und eine Minute zurück zum Ufer. Es macht Spaß, die Kälte stört nicht. Meine Züge sind ruhig und kontrolliert. Ich fühle mich wie im Rausch. Plötzlich gibt es nur noch mich und den See. Nach etwa sechs Minuten schaltet mein Körper in den Energiesparmodus und signalisiert mir, dass er sich so langsam über Wärme freuen würde. Nichts da! Ich erhöhe die Zugfrequenz und schwimme wieder in den See hinaus, Rücken, Schmetterling, Kraul. Dann werden die Züge unkontrollierter, und ich habe kaum noch Gefühl in Armen und Beinen.
Nach neun Minuten und 13 Sekunden schleppe ich mich ein wenig desorientiert aus dem Wasser. Ich wanke, meine Haut ist knallrot. Wie die eines gekochten Hummers. Ich bemerke den Adrenalinschub und würde am liebsten eine Runde um den See rennen.
Meine Vorfreude auf die folgenden Trainingswochen in der Donau in Regensburg konnte jetzt nicht größer sein. Noch 60 Tage bis zur WM.
Silsersee: Tiefe 35 Meter, Temperatur: 8,2 Grad, Sichtweite im Wasser: gut 5 Meter, Wasserfarbe: türkis-dunkelblau, Begleiter: Blesshühner und das Ausflugsschiff MS Segl Maria
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