Leitartikel
Der Feldzug der Moralisten

Immer öfter gehen Menschen im Dienst einer guten Sache viel zu weit. Sie erweisen wichtigen Anliegen einen Bärendienst.

13.06.2019 | Stand 16.09.2023, 5:34 Uhr
Claudia Bockholt

Claudia Bockholt

Ob Klimaschutz oder Tierwohl: Die aktuellen Debatten drohen Maß und Ziel zu verlieren. Ein Beispiel: Die „Fridays for Future“-Initiative – vielleicht beflügelt von der Aussicht, dass Galionsfigur Greta Thunberg nun auch noch mit dem Friedensnobelpreis geadelt wird – will mit flächendeckenden Demos den Regensburger Innenstadtverkehr lahmlegen. Wer das für unangemessen hält, ist in ihren Augen vermutlich ein Eisbärenhasser.

Noch maßloser verhalten sich die selbsternannten Storchenschützer, die nicht vor existenzschädigenden Verleumdungen und persönlichen Drohungen zurückschrecken. Es war natürlich falsch, ein Nest ohne Ausnahmegenehmigung vom Ramspauer Kirchendach zu holen. Doch für die Prüfung dieses Vergehens und eine mögliche Strafe ist immer noch die Justiz zuständig. Der Pranger war ein Instrument des finsteren Mittelalters. Wer ihn im digitalen Zeitalter wieder aus der historischen Folterkammer holt, hat mit Recht und Gesetz selbst nicht viel am Hut.

„Moralische Empörung scheint in diesen Tagen die geltende Währung in allen gesellschaftlichen und politischen Debatten zu sein.“

Moralische Empörung scheint in diesen Tagen die geltende Währung in allen gesellschaftlichen und politischen Debatten zu sein. Und für immer mehr Menschen scheint sie zum Freibrief zu werden. Sie ziehen in den Krieg, den Schild eines unanfechtbaren Motivs hocherhobenen Hauptes und stolz vor sich hertragend. Und wenn Überzeugungen nicht reichen, müssen starke Wörter her. Dann wird aus dem Kükentöten ein „Kükenmord“, ein „grausamer“ natürlich. Mit Vernunft hat das nicht mehr viel zu tun. Es geht darum, möglichst starke Emotionen zu schüren. Das lässt die Wellen kurz hochschlagen, doch wirklich nachhaltig ist die Erregung nicht.

Fakten statt Gefühle sagen, dass es in Deutschland rund 40 Millionen Legehennen gibt. Sie versorgen die Verbraucher mit jährlich 12 Milliarden Eiern. Die gute Nachricht: Der Anteil an Eiern aus ökologischer Haltung steigt langsam, aber stetig. 2017 lag er bei 10,5 Prozent. Weitere 17,7 Prozent der Hennen dürfen bereits fröhlich unter freiem Himmel picken. Offensichtlich ist ein Teil der Verbraucher bereit, die höheren Preise für Freiland-Eier hinzulegen.

„Die gefühlte Menge an empörten Verbrauchern und die Zahl der tierfreundlichen Kaufentscheidungen klaffen weit auseinander.“

Einem weitaus größeren Teil der Käufer ist es jedoch reichlich schnuppe, von wo das Ei in ihrem Omelette stammt. Hauptsache, es ist nicht zu teuer. Bio-Produkte, die – hoffentlich – umweltfreundlich und unter Tierwohlaspekten produziert werden, machten 2017 lediglich 5,1 Prozent des Lebensmittelumsatzes in Deutschland aus. Beim Fleisch ist der Bio-Anteil noch geringer: Geflügel 1,4 Prozent, Rotfleisch 1,8 Prozent, Fleisch- und Wurstwaren sogar nur 1,2 Prozent. Die gefühlte Menge an empörten Verbrauchern und die Zahl der tierfreundlichen Kaufentscheidungen klaffen also weit auseinander.

Fast so weit wie die Zahl der glühenden Klimaschützer und die Zahl der gecancelten Urlaubsflüge: Der Reisekonzern TUI meldete erst vergangene Woche, dass die Deutschen – Greta wird es grausen – unverdrossen ferne Urlaubsziele ansteuern. Allerdings: Dafür gibt es keine Plastik-Umrührstäbchen mehr im Flieger.

Das Kükenschreddern wird, so hat es nun das Gericht beschlossen, über kurz oder lang ein Ende haben müssen. Gut so. Wenn jedes Ei zunächst auf das Geschlecht des Kükens untersucht werden muss, wird das aber vermutlich die Preise in die Höhe treiben. Oder wir importieren einfach Billigware aus dem Ausland, wo man es mit den männlichen Flauschküken nicht ganz so gut meint wie die Deutschen. Und wo die Hennen vielleicht noch in Käfigen brüten, statt draußen zu flattern.

Deutschland trägt nur zwei Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß bei. Unser Anteil an der weltweiten Empörung liegt deutlich darüber. Ob hochmoralischer Impetus uns den nötigen Schwung gibt, die hochgesteckten Ziele zu erreichen, ist längst nicht ausgemacht. Das gesellschaftliche Klima belastet er auf alle Fälle.