Bevor Carl Kollhoff (Christoph Maria Herbst) ein Buch aus dem Regal zieht, fixiert er mit den Augen genau den Buchrücken, bläst sich in die Fingerspitzen und reibt die Hände. Jedes Buch ist für ihn eine Kostbarkeit und ein Festmahl zugleich.
Zurückgezogen lebt der 72-jährige Buchhändler in einer Dachwohnung, in der vor jeder Wand ein gut gefülltes Regal steht. Bücher sind für den Witwer wie eine „Familie aus Papier“. Sein ganzes Leben hat er in der „Buchhandlung am Stadttor“ gearbeitet, die ihre Ware nicht nur über den Tresen hinweg verkauft, sondern auch persönlich zu den Kundinnen und Kunden nach Hause bringt. Nun wurde der Laden von einer Franchise-Firma übernommen, deren Filialleiterin Frau Jattkowiak (Nikola Kastner) die Buchhandlung sukzessive in einen knallorangen Multimedia-Shop verwandelt.
Ein Märchenzum Wohlfühlen
Als Relikt aus alten Zeiten bringt Carl immer noch Tag für Tag der Kundschaft ihre Lektüre nach Hause. Mit Filzhut und großem Rucksack auf dem Rücken sieht er fast aus wie der Almöhi aus Johanna Spyris „Heidi“-Roman. Und wie der Almöhi ist auch Carl ein alter Mann, dessen Lebensroutine durch ein junges Mädchen kräftig durcheinander gewirbelt wird.
Schascha (Yuna Bennett) hat von ihrer verstorbenen Mutter die Leidenschaft fürs Lesen vermittelt bekommen. In Carl erkennt sie schnell einen bibliophilen Gleichgesinnten und hängt sich an ihn ran. Der Buchspazierer, wie sie ihn tauft, ist wenig begeistert von der neuen Begleitung, die ihn in seinem Eigenbrötler-Dasein stört. Aber Hartnäckigkeit ist nur eine von zahlreichen, kindlichen Tugenden, über die Schascha im Übermaß verfügt. Neugier ist eine andere. Während Carl großen Wert auf Diskretion legt, interessiert sich das Mädchen brennend für das Leben der Menschen hinter der Türschwelle.
Mit seinem literarischen Debüt „Der Buchspazierer“ landete Sebastian Henn 2020 im ersten Corona-Jahr einen Bestseller-Erfolg. Der Wohlfühlroman fügte sich passgenau ins Pandemiegeschehen ein, verbreitete eine herzerfrischende Grundgemütlichkeit, feierte die Literatur als Seelentröster und thematisierte die Schwierigkeiten menschlicher Vereinzelung, die alle gerade am eigenen Leib erfuhren. Nun hat Regisseur und Kameramann Ngo The Chau die Geschichte für die große Kinoleinwand adaptiert und erzählt sie in einem familiengerechten Filmmärchen-Format.
Christoph Maria Herbst darf in der Titelrolle alle Sarkasmen und Comedy-Attitüden über Bord werfen und in die Figur des schrulligen Alten tauchen, der sich in seiner Einsamkeit eingerichtet hat. Ihm gegenüber steht die junge Yuna Bennett, die mit Charme, Witz und offensichtlicher Spielfreude bei der Sache ist. Die beiden funktionieren als generationsübergreifendes Duett auch gerade deshalb so gut, weil dem Mädchen jene treffsicheren Pointen in den Mund gelegt werden, die man normalerweise von Christoph Maria Herbst erwarten würde. Die liebenswerte Opa-Enkelin-Dynamik bildet das Rückgrat des Filmes, der sein ungleiches Paar auf einen innerstädtischen Roadtrip zu illustren Charakteren schickt.
Jedem seiner Kunden hat Carl eine Figur der Weltliteratur zugeordnet. Da ist der schwerreiche Mr. Darcy (Edin Hasanovic), der ganz allein in einer Riesenvilla residiert und in der Stadt kein gutes Ansehen genießt. Nachdem ein großer Eisklotz aus einem Flugzeug direkt vor ihre Füße gefallen ist, traut sich die ehemalige Grundschullehrerin Frau Langstrumpf (Maren Kroymann) gar nicht mehr aus dem Haus. Statt Klassenarbeiten zu korrigieren, spürt sie nun Rechtschreibfehler in den Büchern auf. Der Gewichtheber Herkules (Tristan Seith) versucht zu verbergen, dass er gar nicht lesen kann. Effi Briest (Hanna Hilsdorf) ist in einer unglücklichen Ehe gefangen und bestellt die traurigsten Romane der Weltliteratur.
Mit ihrem nassforschen Temperament findet Schascha schon bald heraus, was den einsamen Bücherwürmern fehlt. Es gehe nicht darum ihnen die Bücher zu bringen, die sie wollen, sondern die sie brauchen. Und das sind Geschichten, die sie aus ihren selbstgebauten Schneckenhäusern und Wahrnehmungsblasen herauslocken.
Das Mädchen spürt, was den Menschen fehlt
Was für die Kundschaft gilt, gilt auch für Carl, Schascha und den Vater des Mädchens (Ronald Zehrfeld), die sich ihren eigenen Trauer- und Verlustgefühlen stellen müssen. Auf dem Weg zum Massen-Happy-End bleibt kein Auge trocken, denn zur offenporigen, märchenhaften Erzählweise gehört hier auch eine gute Portion Kitsch. Aber auch wenn die Plotstruktur übersichtlich bleibt und die Probleme auf harmloseste Weise bewältigt werden, gelingt es Ngo The Chau den liebenswerten Humanismus des Romans gänzlich unverlogen auf die Leinwand zu bringen, indem er mit seiner Inszenierung einen leicht surrealen Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit behält und die Emotionen der Figuren umso klarer ausformuliert.
Martin Schwickert
• D 2024, von Ngo The Chau, mit Christof Maria Herbst, Yuna Bennett, Ronald Zehrfeld, 99 Minuten, frei ab 6 Jahren
• Den Trailer sehen Sie im digitalen Feuilleton: pnp.de/kultur
Artikel kommentieren