Die britische Autorin Zinnie Harris hat die Orestie von Aischylos überschrieben. Die fünfeinhalbstündige Inszenierung kreist um die Bewältigung von Traumata. Am 29. Mai ist Premiere.
Die Frauen, ihre Rache und ihr gemeinsames Trauma stehen im Zentrum von Zinnie Harris’ groß angelegter Überschreibung der Orestie des Aischylos (525 v. Chr. bis 456 v. Chr.). Mit dem Fünfeinhalbstunden-Projekt „Haus ohne Ruhe“ eröffnet das Stadttheater Ingolstadt am 29. Mai die 39. Bayerischen Theatertage.
Die Fachjury reiste durch ganz Bayern, um aus 60 Bewerbungen die besten Inszenierungen für Ingolstadt auszuwählen. 27 Produktionen von Stadt- und Landestheatern sowie von freien Gruppen schafften es in den Spielplan. Das Theater Regensburg, das mit der neuen Saison in den Rang des Staatstheaters erhoben wird, ist mit „Draußen vor der Tür“ vertreten, dem Heimkehrer-Drama von Wolfgang Borchert, inszeniert von Regensburgs Schauspiel-Direktorin Antje Thoms.
In Ingolstadt stand die Orestie längst auf der Wunschliste von Intendant Knut Weber – „weil es einer der Gründungstexte der Demokratie ist“. Als er 2021 „In der Dämmerung“ von Zinnie Harris in der Pius-Kirche inszenierte, machte ihn der Text neugierig auf die anderen Stücke der britischen Dramatikerin, die zum großen Teil nur auf Englisch vorliegen – wie der Dreiteiler „This Restless House“.
Lesen Sie mehr: „Michael Kohlhaas“ in Regensburg als zeitlose Studie zu Selbstjustiz
„Zinnie Harris nimmt die Struktur der Orestie ernst, schreibt sie weiter und schafft einen Gegenentwurf zu Aischylos’ patriarchaler Demokratie. Das fanden wir total spannend. Es ist ein großer epischer Wurf und ein klares Bekenntnis zum Schauspielertheater“, sagt Weber. Mit Clara Bender hat er die Dramaturgie übernommen. Jochen Schölch sei „der ideale Regisseur“, sagt er. „Nach 13 Jahren kommt hier unsere Zusammenarbeit auf den Punkt.“ Beide besuchten Zinnie Harris in Edinburgh, um mit ihr das Stück zu besprechen. Die Dramatikerin kommt zur Premiere und gibt bei den Theatertagen auch einen Workshop.
Zuflucht in der Psychiatrie
Worum geht’s in „Haus ohne Ruhe“? Der erste Teil, Agamemnons Rückkehr, rückt Klytaimnestra in den Fokus. Agamemnon hatte die Tochter Iphigenie geopfert, um den Zorn der Götter zu besänftigen. Die Jahre seither verbringt Klytaimnestra betrunken – um bei Agamemnons Heimkehr aus dem Krieg nüchtern und fokussiert seinen Tod zu orchestrieren. Aber Elektra, die jüngere Tochter, wird Zeugin des Mords an ihrem Vater. Sie steht im Zentrum von Teil zwei, Orests Fluch, in dem sie mit Orest den Mord an der Mutter plant. Teil drei, Elektra und ihr Schatten, schlägt den Bogen in die Gegenwart, in der die von Rachegöttinnen gejagte Elektra in der Psychiatrie Zuflucht sucht. „Sie ist eine Zeitreisende und trifft hier auf eine Ärztin, die ein ähnliches Problem mit Schuld hat“, erläutert Weber. Auch heute bestimmen Themen wie Rache, Recht, Gerechtigkeit und Vergeltung unsere Gegenwart.
Lesen Sie mehr: Männerfantasien sind ziemlich anstrengend
Wie unterscheiden sich Original und Überschreibung? „Die Überschreibung geht ganz anders in die psychischen Befindlichkeiten und schildert all das, was man in der Originaltragödie nicht sieht, was sonst der Fantasie des Zuschauers überlassen ist. Die Morde und dass Kassandra ihre Zunge verliert, passieren auf der Bühne“, sagt Weber. „Ich kenne keine Bearbeitung der Orestie, die die Traumabewältigung so zum Thema gemacht hat. Was löst das aus, wenn der Mann, der die Tochter getötet hat, nach zehn Jahren heimkehrt?“ Clara Bender sagt: „Wir haben uns viel mit transgenerationalen Traumata beschäftigt, wozu es heute extrem viel Forschung gibt, vor allem zu Kriegs- und Nachkriegsgenerationen.“
Die Frauenfiguren stehen klar im Fokus. Zinnie Harris spreche ihnen einerseits mehr Handlungsmacht zu und hat Szenen eingefügt, die das Innenleben der Frauen beschreiben, so die Dramaturgin. „Es geht auch um das Verstehenwollen. Was treibt eine Frau an, ihren Mann zu töten?“
Auch ohne viel Vorwissen verständlich
Der Chor versteht sich als Kommentar auf den Chor in der griechischen Tragödie. „Nur ist er hier kein reiner fester Körper ist, sondern man sieht die Individuen“, erklärt Bender. „Dieser Chor der alten, in gewisser Weise kriegsversehrten Männer, spielt zum Teil eine zwielichtige Rolle“, ergänzt Weber. „Denn er erzählt die Geschichte sehr parteiisch, aus Agamemnons Perspektive. Das ist nicht ganz unpropagandistisch.“
Braucht man Vorwissen, um die Geschichte und die Verweise zu Aischylos nachvollziehen zu können? „Auch wenn man die Orestie nie gelesen hat, wird man den Abend verstehen. Zinnie Harris hatte den Anspruch, ein vollständiges neues Stück zu schreiben, das sich nah am Original bewegt. Alles was wichtig ist, wird im Text und szenisch erzählt“, meint Clara Bender. „Und wer sich mehr Hintergrund wünscht, für den gibt es das Programmheft.“
19 Tage nichts als Theater
Eröffnung: „Haus der Ruhe“, die Trilogie nach der Orestie von Aischylos, hat am Mittwoch (29. Mai, 17 Uhr) Premiere im Theater Ingolstadt. Die fünfeinhalbstündige Inszenierung hat zwei längere Pausen. Im Anschluss (22 Uhr) ist Premierenfeier. Alle Infos und Karten: (0841) 30547200, bayerische-theatertage.de
Spielplan: Von 29. Mai bis 16. Juni sind 27 Theater aus 15 Städten zu Gast und bestücken ein All-you-can-eat-Theaterbüfett: vom Klassiker bis zu eigenwilliger Performance, vom Kindertheater bis zur Krimikomödie. Dazu gibt’s Konzerte, Lesungen, Diskussionen und Partys zu Auftakt und Finale.
Zu den Kommentaren