Blätter-Gleichnisse
Soloshow in der Galerie Lesmeister: „Fragile Paradise“ von Malerin Giulia Dall’Olio

25.09.2023 | Stand 25.09.2023, 13:35 Uhr |
Peter Geiger

Endloses Wuchern und hypertrophes Wachstum – diesen Eindruck vermitteln die Bilder von Giulia Dall’Olio. Foto: altrofoto.de



Sie lässt Pflanzen in ihrer Künstlerinnenhand wuchern. Doch die so verrätselten Arbeiten aus Kohle und manchmal auch aus Öl von Giulia Dall’Olio bergen ein Geheimnis, das viel verrät über jene Leerstelle, die unsere Spezies hinterlässt, wenn sie eines Tages verschwunden sein wird von der Erde.

Nichts weniger als die Frage nach den Folgen der An- und Abwesenheit der menschlichen Spezies stellt Giulia Dall’Olio. Das heißt: Die 1983 in Bologna geborene und heute in Triest am Mittelmeer arbeitende Malerin bewegt sich auf dem naturgeschichtlichen Zeitstrahl entweder am Anfang oder am Ende aller Tage. Was den Betrachter der von ihr in englischer Sprache als „Fragile Paradise“ überschriebenen Arbeiten doch einen kühlen Schauer über den Rücken zu jagen vermag.

Gleichnis vom Seerosenteich



Denn diese Pflanzen, die ihre Künstlerinnenhand da wuchern lässt, vermitteln den Eindruck von einer Welt, die, ohne dass eine ordnende Größe eingreifen würde, endlosem Wuchern und hypertrophem Wachstum aufsitzt und ausgeliefert ist.

Sogleich denkt man an das Gleichnis vom Seerosenteich, das die Exponentialfunktion griffig erklärt: Behutsam geht’s los, aus zwei Blättern werden am zweiten Tag vier, am dritten acht, sodass am Ende der ersten Schöpfungswoche ein Teich von 128 Blättern bewachsen sind. Nach zwei Wochen aber sind es schon mehr als 16000. Die Millionengrenze wird am 20. Tag gerissen, vier Tage später die Milliarde.

Buschige Blattwesen

Ja, Giulia Dall’Olios Universen von buschigen, nicht näher benennbaren Blattwesen entstehen aus einer Kohlegrundierung – die sie sodann mit handelsüblichem Radiergummi behandelt, schwarze Schichten wieder abträgt und helle Freiräume schafft, für ihre Blätter.

Mathias Listl vom Museum für Konkrete Kunst in Ingolstadt kennt das Oeuvre von Giulia Dall’Olio deshalb so präzise, weil er im vergangenen Jahr ihre große Ausstellung „Studio“ (was so viel bedeutet wie „Streben“, aber auch im Nebenklang „Atelier“ bedeutet) in der Kunsthalle Mannheim kuratiert hat. Er befragt die Künstlerin nach ihrem Verständnis der Landschaftsmalerei – die traditionell den Menschen ins Verhältnis zu der ihn umgebenden Welt setzt und dieses auslotet. Hier aber, in diesen so verletzbaren, so sensiblen Paradieswelten, ist weder Mann noch Frau, hier ist ganz einfach niemandem eine Rolle zugedacht. Der Mensch ist abwesend, nicht vorhanden, verschwunden, was auch immer.

Ein „baumartiger Nebel“



Giulia Dall’Olio selbst zuckt mit den Schultern. Und lächelt. Trotzdem: Die Hand, die für das Bild im wahrsten Wortsinn verantwortlich zeichnet – ist natürlicherweise eine menschliche. Weshalb die Künstlerin die Frage nach den blauen, den grünen oder den rosafarbenen Farb- und Stofffaden-Interventionen, gestellt von Kunsthistorikerin Ramona Pfaffinger – als jene Spur des Menschen bezeichnet, die auf dessen eingeschränktes Wirken verweist. Denn diese Eingriffe sind entweder schlicht linear oder von Jackson Pollock-hafter Zufälligkeit.

Diese „baumartigen Nebel“ (wie ein italienischer Kritiker schrieb) repräsentieren die Protagonistin dieser Arbeiten, die Natur selbst nämlich, ihren Formenreichtun und die ihr eigene Selbstähnlichkeit. Zudem sind die einzelnen Malfelder oft angeordnet wie „römische Stadtviertel in einem Planquadrat“ – querformatige Blätter, die fünf mal fünf zu einem Ensemble gefügt sind.

Aufmerksame Zuhörer

Die Atmosphäre bei dieser Vernissage – die zugleich den Auftakt zum Galerienabend bildet – ist einerseits locker und von Laufkundschaft geprägt. Und dennoch lauschen alle Besucherinnen und Besucher höchst konzentriert und aufmerksam diesem Gespräch mit der Künstlerin. Weil deutlich wird: Diese einerseits so verrätselten Arbeiten aus Kohle und manchmal auch aus Öl bergen ein Geheimnis, das doch ganz schön viel verrät, über jene Leerstelle, die unsere Spezies hinterlässt, wenn sie eines Tages verschwunden sein wird von der Erde.

Nicht mehr und nicht weniger als solche existenziellen Fragen formuliert Giulia dall’Olio mit ihrer Serie „Fragile Paradise“.

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