Beziehungen
Einen, zwei, drei, viele lieben

Der Frühlingsanfang bringt die Frühlingsgefühle mit sich: Wie gelingt die Liebe – und mit wie vielen Partnern?

18.03.2017 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr
Angelika Sauerer

Es gibt verschiedene Beziehungsformen zwischen Mann und Frau – auch die der Polyamorie. Grafik: Lissi Knipl-Zörkler

Letzte Woche, kurze Umfrage: „Könnt ihr euch vorstellen, mit mehreren Partnern gleichzeitig und in bestem Einvernehmen zu leben und zu lieben?“ Das Pärchen, sehr jung: 17, errötet überrumpelt. Lisa und Peter. Sie guckt ihn an und er sie. Blicke voller Zärtlichkeit, die erzählen, was sie gleich sagen werden: „Niemals. Wir lieben uns und wollen für immer zusammenbleiben. Zu zweit.“

Statistisch gesehen stehen die Chancen dafür denkbar schlecht. Jede zweite Ehe in Deutschland wird geschieden. Und wie viele der Partnerschaften, die Bestand haben, tatsächlich glücklich sind, steht in den Sternen. Paartherapeuten jedenfalls haben gut zu tun beim Versuch dabei zu helfen, die Scherben zu kitten. Der Regensburger Diplom-Psychologe und psychologische Psychotherapeut Gerd Hecht weiß aus der Praxis, wer Schuld am zerdepperten Geschirr hat: Es ist das „romantische Ideal“ der Zweierbeziehung.

Golden Twenties brachten die freie Liebe

Dass es im Moment mehr denn je in Frage gestellt wird, ist kein Zufall, findet Hecht. Seit den Golden Twenties schwappte die Welle der freien oder zumindest freieren Liebe zwar immer wieder als eine Gegenbewegung zur von Zwang und Verboten diktierten Moral in den städtisch-studentischen Avantgarde-Kulturen nach oben. Doch diesmal ist es anders. Es ist weniger Reaktion als Aktion, weniger Trotz als kühle Einsicht. „Was wehtut, ist nicht die Liebe, sondern unser Liebesideal“, formuliert der Journalist und Autor Friedemann Karig. Gerd Hecht würde diesen Satz sofort unterschreiben.

„Was wehtut, ist nicht die Liebe, sondern unser Liebesideal“Friedemann Karig, Journalist und Autor

„Die Konvention der monogamen Bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Ehe droht unter dem Ballast einer falschen Überlieferung zu kollabieren, die uns beharrlich eine andere Identität andichten will“, postulieren Christopher Ryan und Cacilda Jethá. Ryan promovierte in Psychologie über die prähistorischen Wurzeln menschlicher Sexualität, seine Frau Jethá ist Psychiaterin. Ihr Buch „Sex – die wahre Geschichte“ ist vor einem halben Jahr auf Deutsch erschienen und gehört mit Karigs „Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie“ und einigen weiteren Titeln zu einer nicht kleinen Gruppe neuer Bücher, die sich wissenschaftlich, historisch, psychologisch oder auch einfach amüsant mit dem Thema beschäftigen.

Beziehungskater nach dem Hormonrausch

Wie wird es mit Lisa und Peter weitergehen? „Etwa ein Jahr Hormonrausch“, prophezeit Gerd Hecht. Im Strudel körpereigener Glücksbotenstoffe verschwimmen die Unterschiede zwischen den Verliebten bis zur Unkenntlichkeit. Nichts stört, alles passt. Man scheint wie füreinander geschaffen. „Dieser Zustand lässt sich nicht verewigen. Es ist ja auch nicht jeden Tag Weihnachten“, sagt Hecht. Es folgen Auseinandersetzungen. Ihr fällt auf, dass er seine alten Socken herumliegen lässt. Ihn stört, wie sie die Zahnpastatube ausdrückt. Und die Lust aufeinander? Die schwindet dann auch noch. Der Hormonspiegel sinkt.

„Es lässt sich nicht leugnen – wir sind eine Spezies mit einer Schwäche für Sex“Christopher Ryan und Cacilda Jethá

Das gesellschaftliche Konstrukt der Monogamie, also der Verpflichtung einem einzigen Partner gegenüber, zwinge viele Paare ins Unglück – so die Theorie von Ryan und Jethá. „Es lässt sich nicht leugnen – wir sind eine Spezies mit einer Schwäche für Sex“, schreiben sie. Einen Gutteil dieser Lust müssten die Menschen indes auf dem Altar der von Kirche und Gesellschaft eingeforderten Zweisamkeit opfern. Ehen zerbrechen „in einem Strudel aus sexueller Frustration, Langeweile, schwindender Libido, Seitensprüngen, Funktionsstörungen, Verwirrung und Scham.“ Passagere oder serielle Monogamie, also aufeinanderfolgende Beziehungen und Trennungen mit tiefen Verletzungen, dem Betrügen und Belügen sei denn auch statistisch gesehen das am häufigsten vorkommende Lebensmodell, sagt Gerd Hecht. Attraktiv hört sich das nicht gerade an.

Man kann die Klippen umschiffen: akzeptieren, dass der Himmel nicht jahrelang voller Geigen hängt; Deals machen; sich zusammenraufen bei aller Wertschätzung; ehrlich und explizit sein, auch und insbesondere was sexuelle Wünsche anbelangt. Es kann funktionieren, meint Gerd Hecht. Muss aber nicht.

Das Standardnarrativ und die Sharing Economy

Bei einer ähnlich schlechten Effizienz hätte man sich in anderen Lebensbereichen längst von einem derart kränkelnden System verabschiedet, statt ewig daran herumzudoktern, folgern Ryan und Jethá sinngemäß. Polyamorie – Liebe zu und mit mehreren Partnern – lautet das Schlagwort. Karig schildert unter anderem einige Liebesgeschichten und vergleicht ihr Coming-out mit dem gleichgeschlechtlicher Paare. In manchen Städten, zum Beispiel auch in Nürnberg, gibt es Polyamorie-Stammtische. Emily Witt, Journalistin aus den USA, hat bei sich und anderen recherchiert. In ihrem demnächst erscheinenden Buch erzählt sie davon. Witt: „Vor allem die Unausweichlichkeit der festen Beziehung als Nonplusultra an Geborgenheit und Respekt trieb die Frauen in meinem Umfeld in den Wahnsinn.“

Was halten Regensburger von Polyamorie? Unser Videoteam sich umgehört:

Doch warum eigentlich? Jahrhundertelang galt ein Narrativ als sinnstiftend und naturgemäß, das sich seit der Steinzeit in unsere Gene eingeschrieben habe: Frau sucht Mann, der sie gut versorgen kann. Mann sucht junge, attraktive Frau zur Vermehrung seines Erbguts. Sie kontrolliert ihn, um dauerhaft Zugang zu all seinen Ressourcen zu behalten. Er kontrolliert sie, damit er seiner Vaterschaft gewiss sein kann. Ryan und Jethá geben zu bedenken, dieses Verhalten sei nur in agrarischen Kulturen mit langfristiger Erbfolge sinnvoll gewesen – also seit gerade mal 10 000 Jahren. Anatomisch moderne Menschen gebe es indes seit 200 000 Jahren. Daher, so argumentieren die Wissenschaftler, habe ein anderes Modell des Miteinanders unsere Gene viel länger geprägt – das der umherziehenden Horde der Jäger und Sammler: Eine Gruppe vertrauter Individuen teilt „Essen, Zuflucht, Schutz, Kinderbetreuung und sogar sexuelle Lust“. „Teilen war einfach effektiver“ – die Sharing Economy lässt grüßen. Das Standardnarrativ sei zwar gängig, aber nicht der menschlichen Natur geschuldet, sondern eine Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen.

Polyamorie entspricht dem Zeitgeist

Normen weichen auf, Bedingungen ändern sich, die Anzahl der Möglichkeiten (dank maximaler Mobilität im echten wie im virtuellen Leben) explodiert, Optimierungssucht schränkt die Kompromissfähigkeit ein – das ist die Situation heute. Warum sich mit stinkenden Socken arrangieren? Warum so lange warten, bis es zum Seitensprung kommt? Warum sich einen Flirt versagen? Warum – aus Sicht der Frau – sich noch länger in überkommene, männlich dominierte Rollenmuster fügen? Um am Ende dann den „30-jährigen Krieg“ feiern zu können? Polyamorie entspricht ganz klar einfach auch dem Zeitgeist. Einige waren ihm schon voraus.

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„Man erzählt uns, Monogamie sei ‚normal‘ und ‚naturgegeben‘, und wenn unsere Leidenschaft nicht in dieses Schema passe, seien wir unmoralisch, gestört und pervers. Viele von uns spüren instinktiv, dass an diesem Bild etwas nicht stimmt“, schreiben die Sexualtherapeutin Dossie Easton und die Autorin Janet W. Hardy in ihrem polyamoren Manifest „Schlampen mit Moral“, das in den USA bereits vor 20 Jahren erschienen ist.

Konsequenzen ziehen nur wenige Menschen

Tatsächlich Konsequenzen daraus zieht allerdings nur eine verschwindend geringe Zahl von Menschen. Selbst Carrie und ihre Freundinnen werden nicht müde, in „Sex and the City“ beharrlich nach „Mr. Right“ zu suchen, anstatt den Modus zu wechseln. „Das ist eine kleine Clique von Leuten, vor allem in Großstädten, für die Polyamorie in Frage kommt“, sagt Gerd Hecht. In seinem Beratungsalltag spiele sie keine Rolle. Er hat vielmehr damit zu tun, Paaren über den Verlust des romantischen Ideals hinwegzuhelfen und Singles dabei zu unterstützen, bindungsfähig zu werden: „Man braucht zuerst eine gute Beziehung zu sich selbst. Und Freunde. Erst dann sollte man sich auf Partnersuche machen“, erklärt er. Für Frühlingsgefühle brauche man einen sicheren Boden. Und bitte keine Utopien. Das gilt im Übrigen auch für Lisa und Peter. Das ist ihre Chance.

Eine Auswahl der Artikel aus dem MZ-Wochenendmagazin nr. sieben finden Sie hier!