Mittermeier
Das Leben eines anderen

Marcus Mittermeier steht gerade als ZDF-Kommissar vor der Kamera. Ein Drehtag im oberbayerischen Dorfen.

23.11.2012 | Stand 12.10.2023, 10:03 Uhr
Angelika Sauerer

Tunnelblick und Bettflasche: Marcus Mittermeier tankt ein bisschen Wärme kurz vor der letzten Einstellung des Tages. Auf diese Aufnahme kommt es besonders an, denn jetzt rückt ihm die Kamera ganz nah. Fotos: Sabine Franzl

Breitbeinig baut er sich vor dem Zeugen Toni auf, die Fußspitzen leicht nach außen gedreht, Hände in den Hosentaschen. So stehen die Cowboys im Wilden Westen da oder die Fußballtrainer am Spielfeldrand. Als er den Satz am späten Vormittag zum ersten Mal in den Mund nimmt, fühlen sich die Worte noch neu an und ein bisschen sperrig. „Geh weiter, sie putzn doch Klos, des hab i doch gsehn, is ja nix dabei, oder?“ Rotzig wirft er sie hin, mit schneidender Kälte zwischen schmalen Lippen. Mit dem ist nicht zu spaßen. Der geht durch die Welt wie ein geladener Colt und es braucht nicht viel, dass es knallt. Ein Mann, der schon Fehler gemacht hat und wieder welche machen wird, höchstwahrscheinlich. Harte Schale, weicher Kern? Wer weiß. Frauen stehen angeblich auf solche Typen. Er heißt Harald Neuhauser und ist einer der drei Kommissare in „München Mord“, einer neuen Krimi-Reihe, die gerade fürs ZDF gedreht wird.

Klappe – klack! – und bitte!

Ein paar Minuten nur dauert die Szene, in der sich Toni in Widersprüche verwickelt. Aber sie zieht sich wie eine ermüdende Endlosschleife durch den trüben, mit kaltem Nebel wattierten Tag, erst als Totale, dann als Halbtotale, dann aus der Nähe von links, von rechts... Marcus Mittermeier wird Harald Neuhauser wird Marcus, wird wieder Harald und dann Marcus, noch mal Harald und so weiter. Konzentration, Ton ab, Ton läuft, Kamera ab, Kamera läuft, 111/4, die Dritte, Klappe – klack! – und bitte! Das nachtblaue Leinensakko lässt er in den Drehpausen an, er zieht nur einen Daunenanorak drüber. Auch der Dialekt bleibt. Denn Mittermeier (43) ist in Landshut geboren und aufgewachsen, seit vielen Jahren lebt er mit seiner Familie in Pentling bei Regensburg. Aber den Rest vom Neuhauser streift er ab: die zusammengezogenen Augenbrauen, den scharfen Blick, die unterschwellige Aggressivität, das Provozierende. Stattdessen: jungenhafter Charme, gewinnendes Lächeln, einnehmendes Wesen. Und dann ist da doch noch eine Konstante: Breitbeinig, die Fußspitzen nach außen gedreht und die Hände in den Hosentaschen steht Marcus Mittermeier in der Scheune des heruntergekommenen Bauernhofs bei Dorfen in Oberbayern. Und hält sein Gesicht der Maskenbildnerin Verena hin.

Bauer oder Beckham

Es ist ein Männergesicht mit allen Optionen: gleichmäßige Züge, gerade Nase, markantes Kinn, harmonisches Profil. Man könnte es mit einer schönen, weißen Leinwand vergleichen, die dem Künstler jede Möglichkeit offen lässt. Das Resultat kann verführerisch sein oder fies, freundlich oder brutal, erdverbunden oder extravagant, Bauer oder Beckham. Manche Schauspieler betreten die Bühne und sind in jeder Rolle unverkennbar sie selbst, schon weil ihr Äußeres sie fixiert. Marcus Mittermeier aber ist frei.

Das Schwierige daran ist, dass er ja immer alles mitbringen muss. Aber das kriegt er hin, er hat es ja in sich. Das Gute ist, dass sich das Publikum nicht an ihm sattsehen wird.

Neben Engagements in Fernsehserien wie „Samt und Seide“ und „Der Staatsanwalt“ setzt Marcus Mittermeier immer wieder Glanzlichter, sowohl als Regisseur wie als Schauspieler. Sein Werdegang führte ihn von ersten Bühnenerfahrungen in Regensburg über die Schauspielschule Zerboni in München zum dortigen Volkstheater und zum Ingolstädter Stadttheater. Schließlich landete das „Fernsehkind“ (Mittermeier über sich selbst) vor und hinter der Kamera. Sein Filmregiedebüt „Muxmäuschenstill“ (2004; Drehbuch und Hauptdarsteller: Jan Henrik Stahlberg) heimste mehrere Preise ein, darunter den Max-Ophüls-Preis für die beste Regie. „Short Cut to Hollywood“ (2010), ebenfalls mit Stahlberg, knüpfte zwar an den Erfolg des Herrn Mux nicht an. Und doch zeigt genau dieser schräge und von allen guten Geistern verlassene Film, wie weit Marcus Mittermeier in seinem Beruf im Ernstfall gehen wird: über jede Grenze.

Die Kälte wegduschen

Gegen 14 Uhr, endlich, die Mittagspause. Über einen matschigen Pfad führt der Weg hinter den Bauernhof. Dort parken die Wohnmobile der Crew. Über dem Wagen der beiden Köche steigt Dampf auf. Es gibt Schupfnudeln, Steaks, Bohnen, Fenchel und Risotto. Marcus Mittermeier nimmt wenig, obwohl es die einzige, richtige Mahlzeit an diesem Tag ist. Seit sieben Uhr morgens ist er auf, um acht holte ihn der Fahrer vom Hotel in Dorfen ab. Dann Maske, Proben, Drehbeginn. Gegen sieben Uhr abends Abschminken: sich mit einem heißen, feuchten Tuch den Neuhauser aus den Poren wischen. Zurück im Hotel die Kälte aus den Knochen duschen, mit seiner Frau und den Kindern (zwei Buben mit 9 und 16 Jahren, ein Mädchen mit 11) telefonieren. Seine Familie hat ihn entweder ganz oder gar nicht. Daran gewöhne man sich, sagt Mittermeier, und es habe ja auch sein Gutes. Anschließend nimmt er sich die Szenen vom nächsten Tag vor. Den Text kann er längst auswendig. Aber es geht darum, sich in die emotionalen Zustände zu versetzen. Ein Drehplan folgt nicht der Chronologie des Filmes, sondern würfelt die Bilder wild durcheinander.

Hungrig, so will Regisseur Urs Egger den Harald Neuhauser haben. Marcus Mittermeier hat dafür in den letzten Wochen zehn Kilo abgespeckt. Und er fastet weiter, schon allein, um nahe bei seinem Charakter zu sein. In andere Rollen wiederum musste er regelrecht hineinwachsen. Die beiden Bauern, die er zuletzt verkörperte, brauchten Erdenschwere, Masse. Einer davon war Paul Moosbacher, Hopfenbauer aus der Hallertau, zerrissen zwischen dörflicher Engstirnigkeit, existenziellen Sorgen einerseits und der Liebe zu seiner Frau Marie (Christine Neubauer) und dem autistischen Sohn Felix andererseits. Marcus Mittermeier war in „Der kalte Himmel“ (2011) als Bester Nebendarsteller für den Deutschen Fernsehpreis nominiert.

„Du kannst nicht doppelt leben“

In einem weiteren Film mit Regisseur Johannes Fabrick, der fertig gedreht, aber noch nicht ausgestrahlt wurde, mimt er einen Gebirgsbauern, dem sein Leben über den Kopf wächst. Man müsse die Erde zwischen den Fingern spüren, den Rost des Hopfendrahts, die Schwere des eigenen Körpers und das raue Klima, um mit solchen Figuren eins zu werden, sagt Mittermeier. Die tödliche Verzweiflung des Gebirgsbauern raubte dem Schauspieler am Ende den Schlaf. Ab drei Uhr lag er jede Nacht wach. „Man glaubt immer, Schauspieler könnten mehrere Leben gleichzeitig führen. Aber das geht nicht“, sagt Mittermeier. „Du kannst nicht doppelt leben.“

Die guten Rollen hinterlassen freilich im echten Leben ihre Spuren. Umgekehrt schöpft Mittermeier aus dem prallen Leben für die Fiktion. „Die Dramaturgie eines Fußballspiels ist durch nichts zu übertreffen“, sagt er. Der FC Bayern München ist sein Verein. Ab und zu geht er mit einem Freund in die Allianz-Arena und lässt sich von den wechselnden Stimmungen mitreißen. Im Kleinen erlebt er das Gleiche beim TSV Großberg. Meister sind sie diese Saison geworden, die Buben der E2. Marcus Mittermeier gehört zum Trainerteam der Mannschaft, in der sein jüngster Sohn (9) mitspielt. Da steht er dann an der Seitenlinie – wahrscheinlich breitbeinig, die Fußspitzen leicht nach außen gedreht und die Hände in den Hosentaschen...

Ein letztes Mal die gleichen Worte. „Geh weiter, Sie putzn doch Klos, des hab i doch gsehn, is ja nix dabei, oder?“ Je näher die Kamera rückt, desto besser wird er. Wiederholung schleift nicht ab, im Gegenteil. Sie schärft.