Kommentar
Angeschlagener Auftakt

24.10.2017 | Stand 16.09.2023, 6:28 Uhr
Jana Wolf

Bis auf den letzten Tag hat der Bundestag seine Frist ausgereizt. Spätestens 30 Tage nach der Wahl muss sich das Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung treffen, so steht es in Artikel 39 des Grundgesetzes. Es kommt nicht von ungefähr, dass die erste Zusammenkunft so lange hinausgeschoben wurde. Denn der Auftakt in die neue Legislaturperiode wird bestimmt von Hürden und Hemmnissen. Petra Sitte von der Linken vergleicht den schleppenden Anfang gar mit einer Autoimmunkrankheit – einer Krankheit also, bei der sich das System von innen selbst schwächt. Symptomatisch sei, dass die Abgeordneten „sich zu sehr mit sich selbst“ beschäftigen, sagte Sitte im Deutschlandfunk. Die parlamentarische Arbeit krankt an sich selbst, noch bevor es richtig losgegangen ist.

Das zeigte sich schon im Vorfeld bei der Frage nach dem Alterspräsidenten, der die erste Bundestagssitzung eröffnet. Aus Sorge, der AfD-Politiker Wilhelm von Gottberg könnte den Posten bekleiden, änderte der Bundestag kurzerhand seine Geschäftsordnung. Statt des Lebensalters ist nun das Dienstalter für das Amt ausschlaggebend. Nachdem Wolfgang Schäuble, Parlamentsurgestein und nun neuer Bundestagspräsident, nicht als Alterspräsident antrat, kam FDP-Senior Hermann Otto Solms zum Zug. Das Geschachere um das Amt vermittelt nicht den Eindruck starker Abwehrkräfte gegen rechtspopulistische Einflussnahme, im Gegenteil. Ein Zeichen von Stärke wäre es stattdessen gewesen, darauf zu vertrauen, dass das Parlament und sein Einsatz für die Demokratie auch von einem AfD-Alterspräsidenten nicht erschüttert wird.

Die AfD ist der entscheidende Punkt, warum starke Abwehrkräfte wichtiger sind denn je. Mit ihr ist erstmals seit 1961 wieder eine Partei rechts der Union vertreten. Die Rechtspopulisten machen nicht nur mit immer neuen bizarren, radikalen oder undemokratischen Aussagen von sich reden. Auch in der Zusammensetzung ihrer Fraktion sind sie alles andere als fortschrittlich. Mit einem Altersdurchschnitt von 50,7Jahren stellt die AfD die älteste Fraktion. Mit nur zehn weiblichen unter den 92 AfD-Abgeordneten hat sie zudem den geringsten Frauenanteil. Doch wichtiger als Alter und Geschlechterverteilung der Fraktion sind ihre Inhalte. Auch hier hat die AfD nichts Zukunftsweisendes zu bieten. Bei Themen wie Digitalisierung, Steuern, Umverteilung, Bildung oder Rente bleibt sie vage bis inhaltsleer. Umso mehr gilt es, die Partei mit Inhalten zu konfrontieren und so ihre Defizite offenzulegen.

Doch der Bundestag krankt nicht nur an der Auseinandersetzung mit den Rechten. Es fehlt ihm zum Auftakt auch an Strukturen, um die inhaltliche Arbeit überhaupt erst zu ermöglichen. Anders als für die Konstituierung des Bundestages gibt es für die Regierungsbildung keine zeitliche Frist. Für die Abgeordneten bedeutet das, sie sitzen in einem neuen Parlament ohne neue Regierung – auf unbestimmte Zeit. Es bedeutet auch, dass die Abgeordneten zwar in Berlin sind, aber noch nicht wissen, in welchen Ausschüssen, den Arbeitsgremien der Fachleute also, sie später eingesetzt werden. Bis die Regierung und der Zuschnitt der Ressorts steht, gibt es nach Beschluss von Union und SPD nur einen sogenannten Hauptausschuss. So lange hängen viele Parlamentarier in einem Schwebezustand fest, ohne inhaltlich in ihren Fachgebieten loslegen zu können.

Schwierig wird die parlamentarische Arbeit auch, weil sich am Dienstag mit 709 Abgeordneten der größte Bundestag konstituiert, den es in der Bundesrepublik je gab. Die Größe allein ist eine organisatorische Herausforderung. Aber sie muss nicht automatisch ein Nachteil sein. So könnten größere Ausschüsse der Regierung auch besser Paroli bieten, der Haushaltsausschuss zum Beispiel dem Finanzminister. Dafür müssen Strukturen geschaffen werden. Je früher, desto besser.

Mit der Demokratie ist es wie mit Immunsystemen. Es sind sensible Systeme. Sie müssen gepflegt und gestärkt werden, um sich gegen bedrohliche Einwirkungen zur Wehr setzen zu können. Wie jedes Abwehrsystem werden auch Demokratien zu bestimmten Zeiten vor Herausforderungen gestellt. Mit der nötigen Umsicht und Fürsorge gehen sie gestärkt aus der Krise hervor. Dieser Herausforderung muss sich das neue Parlament nun stellen.