Menschen
Einmalig: 50 Jahre bis zum Traualtar

Das hat der Pfarrer noch nie erlebt: Bei ihrer Goldenen holte ein Paar aus Karaganda die verbotene kirchliche Hochzeit nach.

15.07.2016 | Stand 16.09.2023, 6:48 Uhr
Helmut Wanner
Alexander Fritz, Held der Arbeit, mit seiner Antonina. Der Sowjetstaat hatte die Mutter von fünf Kindern als Heldenmutter ausgezeichnet. −Foto: Wanner

„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“1. Johannesbrief

Die Braut trug ein mintfarbenes Kleid mit einer mintfarbenen Papierblume. Der Bräutigam trug die Krawatte im gleichen Ton. Die beiden Eheleute sagten ein halbes Jahrhundert nach ihrer standesamtlichen Trauung in Karaganda (Kasachstan): „Ja, ich will.“ Eine Schwiegertochter intonierte an der Orgel den Hochzeitsmarsch. Zehn Enkelkinder und ein Urenkel sangen im Chor. Als Trauzeugen saßen zwei uralte Kumpel von Alexander Fritz aus sowjetischen Jugendzeiten in der Kirchenbank. Der Pfarrer predigte über den 1. Johannesbrief: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Ein paar Tränen wurden aus den Augenwinkeln gewischt, als der Wolgadeutsche Alexander Fritz in seinem schwäbischen Dialekt zu seiner Antonina vor dem Allmächtigen nach all den bewegten Jahren bekräftigte, sie sei die richtige für ihn. Den Pfarrer ließ dies auch nicht kalt. „Bis dass der Tod euch scheidet bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man in einem Alter ist, in dem man über die Zerbrechlichkeit des Lebens Bescheid weiß“, äußerte sich Tobias Müller gegenüber unserer Zeitung zartfühlend.

Eigentlich sind jetzt noch Flitterwochen. Aber man darf trotzdem stören. Die Eheleute Fritz leben seit 1995 gleich neben der Expositur-Kirche, und der Gasthof Pflamminger, in dem sie Hochzeit feierten, ist gleich neben St. Michael. Im Pfarrgarten baut Antonina Kartoffeln, Tomaten und Zucchini an, wie damals im Karaganda. Da hatte sie allerdings 350 Tomatenstöcke, vier Schweine und viele Hühner. Alexander Fritz war jahrzehntelang Bergmann, Bauer und Metzger. Nach seinem Herzinfarkt 2015 muss er sich schonen. Im Pfarrhaus, wo sie im Juni 1995 mit drei Koffern einzogen, sind sie jetzt allein. Im Wohnzimmer ist die große Eckcouch nach sowjetischer Sitte mit einem blauen Schutztuch bedeckt. Alexander Fritz nimmt im Lehnsessel gegenüber Platz. Seine Frau lehnt sich übers Kopfteil. Sie führen das Interview wie ein Wesen, das mit zwei Zungen spricht.

„Hochzeit war seine Idee“, sagt Antonina Fritz. „Sie haben alles organisiert und alles bezahlt.“ Sogar eine Hochzeitsreise im Herbst nach Marienbad. „Da sind viele Russen.“ - „Damit kommen wir zurecht“, sagt Alexander Fritz. Er lacht. Alexander und Antonina Fritz kennen sich seit sie 13 sind. Er ist Abkömmling der 1732 von Zarin Katharina ins Land geholten und von Stalin nach Kasachstan verschleppten Wolgadeutschen. Sie ist Russin mit Leidenshintergrund: „Meine Leute wurden als Kulaken ausgehungert und verschleppt.“ Ein Onkel ist als kleines Kind verhungert. Wenn sie davon erzählt, bekommt sie heute noch Gänsehaut.

Sie war erst 17 Jahre

Antonina ging in eine Parallelklasse derselben Schule in Karaganda. Durch die Musik kamen die beiden zusammen. „Ich spielte Akkordeon, meine Frau sang und tanzte.“ Am 26. 6. 1966 haben sie geheiratet. Alexander war schon 19, genau einen Tag später wurde Antonina 18.

Als die Familie Fritz 1995 ausreiste, nahm sie in den Koffern ihre Orden mit. Antonina bekam für ihre fünf Kinder die Medaille Heldenmutter in Gold. Alexander wurde mit den Orden Held der sozialistischen Arbeit der Klasse II und III ausgezeichnet. Wenn er die Orden anlegt, sieht er aus wie Stachanow, mit dem er neben dem Beruf auch den Vornamen teilt. Mit seinem Gesicht wie Gerard Depardieu hätte Alexander Fritz aber auch Schauspieler werden können.

Von 1966 bis 1994 arbeitete der gelernte Schreiner im Kohlenbergbau unter Tage. „27 Zechen gab es dort.“ Fritz bediente eine Aushubmaschine. Nach der Perestroika musste er ein halbes Jahr auf Lohn verzichten. Mit seiner gesamten Familie stellte er 47-jährig den Ausreiseantrag. Er sah keine Perspektive für seine Kinder.

Deutschland ist gut, aber Bayern ist besser: Den Satz kann Alexander Fritz unterschreiben. Als er 1994 nach Gotha kam, wollten die Kinder gleich wieder umkehren. „Sie sagten, das ist wie zu Hause in der Sowjetunion: Die Trabis, dieselben Stromleitungen.“ Ein Kamerad aus Saraganda gab ihm den Tipp, dass in Hofdorf im Donautal das alte Pfarrhaus freisteht. So wurde die wolgadeutsche Familie im Juni 1995 bayerisch, „Am 5. Juni sind wir eingezogen, am 27. Juni hatte ich schon eine Arbeitsstelle im Betonwerk Hauser.“ Seine Chefin hat ihm einen barmherzigen Jesus von Schwester Faustina geschenkt. Das katholische Gnadenbild hat einen Ehrenplatz im Wohnzimmer des evangelischen Paares.

Nie mehr würde er tauschen: Weder seine Frau, noch seine Heimat Hofdorf. Drei Vorzüge nennt er an seinem neuen Leben: „Zuerst einmal die Ruhe, dann: Es stört keine Polizei. Und: Wer arbeitet, bekommt Geld, soviel, dass es zum Leben reicht.“

Hofdorf ist wie eine Familie

Hofdorf, das ist für Alexander Fritz wie eine große Familie. Antonina Fritz bezeugt: „Als wir hierher kamen, haben die Nachbarn sofort gefragt, was brauchen wir. Am zweiten Tag hat mir die Nachbarin Gardinen geschenkt für sechs Fenster. Jeder hat geholfen.“ Das Paar ist sehr, sehr dankbar. Im Gegenzug haben sich alle Familienmitglieder integriert. Der jüngste Sohn Ludwig ist bei der Feuerwehr und bei den Schützen. „Er war sogar Schützenkönig“, freut sich sein Vater.

Früher in Kasachsten hat Alexander Fritz mit seinem Akkordeon auf Hochzeiten gespielt.Bei seiner Goldenen Hochzeit hat schon ein Enkel darauf vier Stücke gespielt. „Ich habe es ihm geschenkt“, sagt Fritz und zeigt seine Hände. Er hat Arthrose in den Fingern. Aber in seinen Adern fließt noch immer Heiterkeit und Musik.